Briefspiel:Reise in die Vergangenheit (7)

Aus Liebliches-Feld.net
Zur Navigation springenZur Suche springen

Auge-grau.png

Stadt Sewamund transparent.png Briefspiel in Sewamund Herzogtum Grangor.png
Datiert auf: ab Ende 1045 BF Schauplatz: vor allem Stadt und Baronie Sewamund, darüber hinaus Phecadien und benachbarte Landstriche Entstehungszeitraum: ab Frühjahr 2023
Protagonisten: alle Sewamunder Familien, sowie diverse externe Machtgruppen Autoren/Beteiligte: Haus Amarinto.png Amarinto, Haus Tribec.png Tribec, Haus di Piastinza.png DiPiastinza, Familie Luntfeld.png Luntfeld, Familie della Carenio.png Carenio, Familie Degano.png Marakain, Familie van Kacheleen.png Kacheleen, Familie Vesselbek.png Vesselbek, Familie Cortesinio.png Cortesinio, Haus Carson.png OrsinoCarson, Haus della Pena jH.png Horasio, Haus ya Pirras.png VivionaYaPirras, Familie Gerber.png Gerberstädter, Haus ya Papilio.png Gishtan re Kust, Wappen Lucrann von Leihenhof.png Galebquell = Haus d Illumnesto.png Illumnesto, Familie di Estrano.png Beo, Familie ter Braken.png Atagon
Zyklus: Übersicht · Präludium - 1045 BF · Der Eklat - Praios 1046 BF · Der Selziner Schwur - Rondra 1046 BF · Interludium - Efferd 1046 BF · Der Tag der Treue - 1. bis 15. Travia 1046 BF · Ein Sturm zieht auf - 16. bis 30. Travia 1046 BF

Ausgespielte Geschichten: Ruf nach Phecadien · Die Sewamunder Delegation in Shenilo · Quod est Demonstrandum · Sturm auf Amardûn · Reise in die Vergangenheit · I · II · III · IV · V· VI· VII · In den Kerkern von Amardûn · Das Treffen der Verschwörer · Ein Gespräch zur Rosenstunde · Sewamunder Delegation bei Irion von Streitebeck · Trauerfeier für Leonardo Cortesinio · Treffen bei Tovac · Reise ins Unbekannte · I · II · III · Packratten aus der Ponterra · I · II · III · IV · Gefährliche Worte · I · II · III · Efferds Zorn · Einmalige Gelegenheiten · Der Herzog des Westens · Die Würfel sind gefallen · Besprechung zum Götterurteil · I · II · Im Auge des Sturms · Am Scheideweg · Der letzte Tag · Nächtliche Besprechungen · Der Drache erwacht - das Götterurteil am Norderkoog · Der Drache erwacht - der Kampf um Sewamund · Der Drache erwacht - die Befreiung von Amardûn · Das Gold der Distel



Autoren: Galebquell, Amarinto, Atagon


Anfang Travia 1046 BF, Sewamund


Der horasische Offizier und die nordmärker Ritterin

Grimheldis von Unkenau, nordmärkische Ritterin und Schlachtreiterin, stand im frischen Wind neben dem Capitan auf der Aussichtsplattform und schaute weit in die Ferne. Es war...ungewohnt, so weit in die Ferne zu schauen. Kein Gebirge versperrte ihr den Blick, kein Baum stand im Weg. Der Horizont erstreckte sich schier endlos. Unter ihnen lag die Stadt und als Grimheldis hinunter schaute, erschauderte sie kurz, streckte sich und wandte sich wieder an Praiodan ter Braken. "Ah, Capitan, ein Ausblick, wunderbar, er wäre schöner, wenn wir nicht im Krieg wären."

"Ja, nicht wahr? Der Aufstieg ist ein wenig abenteuerlich, weil einige der Querstreben dringend ausgetauscht werden müssten, aber sobald man hier oben ist, ist es die Mühen jedes Mal wert! Ich weiß noch, wie Grangor tagein tagaus nebelverhangen war, nein, Sewamund ist schon die schönere Stadt. Also, dort vorne die Erhebung, das ist bereits der Phecanowald, wenn das Wetter besonders gut ist, sieht man von hier oben tatsächlich über die Bucht bis zum Windhag. Die große Stadt ist natürlich Grangor mit seinen hohen Häuserblöcken und hier drüben könnt ihr die Muschelstadt Ruthor in ihrer ganzen Pracht begutachten. Wenn ich das richtig verstanden habe, seid ihr der Baronin bereits begegnet?"

Grimheldis folgte, wann immer Praiodan in eine Richtung wies, seiner Handbewegung und betrachtete das Beschriebene. Der Phecanowald rührte sie noch nicht sonderlich, die Koschberge, in deren Schatten sie aufgewachsen und ausgebildet worden war, waren höher, drückender, beeindruckender. Aber als ihr Blick gen Westen reichte und dann dem Bogen von Praiodans Hand in Richtung Ruthor, musste sie sich an der Brüstung festhalten. Endlos war das Meer, endlos die Wellen, die an den Hafen und die Küste rauschten. Es war mitnichten so, dass sie das Meer noch nie gesehen hatte. Einmal hatte sie ihr damaliger Knappenvater Riobhan von Leihenhof, der vormalige Baron von Galebquell, mit auf eine Reise nach Harben genommen. Dort hatte sie bereits einmal das Rauschen des Meeres der Sieben Winde vernehmen können. Doch der erneute Anblick des urgewaltigen, schier endlosen Meeres nahm sie erneut gefangen. Der Capitan bemerkte die Ehrfurcht und ließ der Ritterin aus den Nordmarken einige Augenblicke dieser Ruhe.

"Wisst Ihr, Capitan." erklang Grimheldis warme Stimme, deren weicher Honigklang nicht zu einer Frau ihrer Statur, ihrer Kraft passen mochte, nach diesen Augenblicken. "Meine Familie stammt aus einem morastigen Landstrich, fruchtbar zwar mit guten, feuchten Böden, aber eingerahmt vom Großen Fluss auf der einen und von tiefen Wäldern auf der anderen Seite und dazwischen Sumpf und Moor." Sie lächelte. "Aufgewachsen bin ich bei meinen Verwandten, dem Haus Leihenhof, im Schatten der Koschberge, einem hügeligen und dicht bewaldeten Land." Sie straffte sich, ihre breiten Schultern knackten. Praiodan folgte ihrem breitem, nordmärkischen Dialekt, der sich so von dem spielerischen Horathi unterschied.

"Weit sehen konnten wir nicht wirklich, es sei denn wir kraxelten mal in die Berge." Sie gluckste. "Jetzt hier zu stehen und einfach kein Ende sehen zu können, das ist..." Sie brach ab und drehte sich zu Praiodan ter Braken um: "Ihr fahrt zur See?"

"Nicht mehr, aber ich habe es als Kind gelernt, jawohl. Unsere Familie hatte einige, nun, ereignisreiche Dekaden, könnte man sagen. Und angefangen hat es alles mit dem Verlust der 'Thalassea', einer wunderschönen Dreimast-Karavelle." Der sonst eher massige Offizier wirke für einen Moment weich, verletzlich, gebrechlich und alt.

Grimhelds lehnte sich vorsichtig an die Mauer und versuchte sich an einem Lächeln. Sie musste sich daran erinnern, dass der Capitan einige Jahre, vielleicht sogar zwanzig, älter war als sie - und daher über viel mehr Erfahrung verfügte. "Möchtet...möchtet Ihr mir...mir mehr über die Thalassea erzählen? Was war sie für ein Schiff?" Sie zuckte mit den Achseln. "Verzeiht mir, ich kenne mich in der Seefahrt nicht so aus."

"Gern ein anderes Mal, vielleicht bei einem Bier in der Burgschenke." Er zwinkerte, dann fuhr er fort: "Und dieses Gebäude dort vorne auf der Anhöhe ist der Perainetempel, der mir offen gesagt schon immer ein Dorn im Auge war."

Praiodan merkte, dass das missverstanden werden könnte, und ergänzte schnell: "Natürlich nichts gegen Peraine oder ihre derischen Diener, ich meine lediglich aus einer militärstrategischen Perspektive! Ich habe ihnen schon mehrfach vorgeschlagen, wie man dort Mauern errichten könnte, von kleinen Gartenmauern über so schön dunkle mit viel Efeu, aber dazu ließen sie sich partout nicht überreden. Aber so bringen uns all diese dicken Mauern herzlich wenig, wenn die Quartiere der Deicharbeiter als improvisierte Barrikaden herhalten müssen!" etwas halblaut ergänzte Praiodan: "...auch wenn es wirklich schöne Mauern sind."

Neugierig betrachtete die Ritterin den kleinen Tempel mit dem hübschen Garten - soweit sie von hier aus diese Details erkennen konnte. Der Perainetempel lag umgeben von viel Grün und einigen Teichen. Beinahe schon schien er eher einer der zahlreichen Palazzi zu sein, die sich auch hier in der...Septimana, so nannte man diesen Landstrich...überall fanden. Ohne sich von dem Anblick abzuwenden, sprach sie zu Praiodan: "Aber meint Ihr denn, die Bewehrung eines Perainetempels ist in diesen zwölfgöttlichen Landen notwendig? Aus der Mark Greifenfurt und dem Herzogtum Weiden kenne ich Wehrtempel, denn die barbarischen Orks halten sich nicht an die Heiligkeit der Tempel der Zwölfe." Es mochte Praiodan auffallen, dass sie, die ultramontane Ritterin aus dem nordmärkischen Barbaricum, den letzten Halbsatz nicht ausspie. Möglicherweise war sie selbst zu jung, um Erfahrungen mit Feldzügen gegen die Schwarzpelze gemacht zu haben.

"Aber die Söldner und Soldaten hier im Horasreich..." Sie drehte sich nun dem Capitan zu. "...das auch in den Nordmarken als Hochblüte der Zivilisation gilt..." Sie zuckte mit den Achseln. "...ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ausgerechnet ein Perainetempel bewaffnet und bewehrt werden muss."

"Das gesamte Prinzip hinter Sicherheit ist, mit dem schlimmstmöglichen Fall zu rechnen! Und bei uns Menschen ist eine ganze Menge möglich, das könnt ihr mir glauben. Stellt euch einmal vor, wir stellen eine hübsche Schlachtreihe nördlich der Stadt auf, genau 50 Mann breit und nicht weiter, aber dann flankiert Irion uns, nimmt die Stadt im Sturm von verschiedenen Seiten und zwingt uns, mit den eh schon unterlegenen Einheiten, unsere eigene Stadt zu belagern! Was glaubt ihr, würden die Sewamunder Bürger über uns sagen, nämlich dass wir unsere rondrianische Pflicht vernachlässigt hätten!" Die letzten Worte polterte der sonst so geruhsame Offizier förmlich. "Verzeihung, ich habe wohl meine Fassung verloren. Und während es unsere weichste Stelle ist, so gibt es immer noch eine Vielzahl an Dämmen, Gräben und Deichen, die wir im Notfall zerstören können."

Grimheldis ließ ihren Blick über die Verteidigungsanlagen Sewamunds schweifen. Es gab nur wenig Städte in den Nordmarken, die vergleichbar befestigt waren. Elenvina natürlich, Gratenfels hatte sich für seine enormen Wehranlagen hoch verschuldet. Die meisten Städte der Nordmarken waren auch viel kleiner, Dörfer aus dem Blickwinkel der Horasier. Die Mauern Sewamunds schienen stark und fest. Einfallstore mochten die Flüsse sein oder die Tore auf dem Festland. Sie drehte sich wieder zum Capitan um: "Sagt, wie schätzt Ihr die Verteidigungsfähigkeit Sewamunds ein? Die Mauern scheinen stark und fest - aber Schwachstellen hat jede Verteidigung. Wo könnte sie in Sewamund liegen und was könnten wir tun, um diese Schwachstelle zu schließen?"

Praiodan rieb sich einen Moment das Kinn. "Also sehr gut gesichert sind wohl die Brücken über den Sewak und hinauf zum Sewaksteig. Mit der Burg im Rücken bräuchte man sicher eine zwanzigfache Übermacht, sowie eine Möglichkeit, sicher das Wasser zu überqueren. Und solange sich auch nur eine Handvoll Milizionäre in der Festung drüben in Trafiume aufhält, braucht es eine ganze Armee, um das einzunehmen - oder wohl eher es mit Rotzen zu Schutt und Asche zu zerschießen, das verspricht mehr Erfolg!" Grinsend pochte der Kastellan auf die Mauern 'seiner' Burg.

"Die Oberstadt ist ebenfalls hervorragend gesichert, wenn man die Türme des Palazzo Amarinto und Palazzo Aurelio dazunimmt, gibt es ein sattes Dutzend Wachtürme, die Verteidigern ermöglichen, ihre Gegner lange zu beschäftigen. Dazu enge, verwinkelte Gassen, das wird kein Vergnügen für Angreifer. Als das Schloss Corello errichtet wurde, hat sich der alte Selchion nicht lumpen lassen und eine ordentliche Stadtmauer vom Meer bis zu den Kanälen spendiert. Hat ihn allerdings ruiniert, sodass Irion Baron werden konnte. Die Neustadt ist zwar nicht so verwinkelt, aber fast genauso gut befestigt wie die Oberstadt, zumal all die Palazzos oft Türme oder große Innenhöfe haben. Und von Seeseite aus haben wir wohl wenig zu befürchten, Sewakia hat in der Hafenfestung reichlich Sewakdrachen und Ruthors Kriegsschiffe haben einige hochmoderne Rotzen an Bord. Nein, wie bereits erwähnt, Sewamund ist gut gewappnet, einzig der Villenstreifen und die Brücke beim Perainetempel sind unsere weichen Stellen. Natürlich können wir versuchen, die Brücke einzureißen, aber vom Tempelhügel aus kann man leicht mit einigen Dielen eine neue Brücke improvisieren, solange man nur genug Deckungsfeuer hat. So würde ich es machen, wenn ich Sewamund angreifen müsste: Im Schutz der Dunkelheit einige erfahrene Soldaten, Schützen und Mechaniker durch die Felder und über die Gräben bringen, die dem Hauptteil der Truppen den Weg bereiten, dann mit dem Tempel als Feldherrenhügel den Kanal überqueren und sobald man einen Brückenkopf etabliert hat, in einem großen Vorstoß die Stadt entzwei teilen."

Grimheldis sah aus, als schwirre ihr der Schädel ob der ganzen Erläuterungen und Erklärungen. Sie ließ noch einmal den Blick über das Umland schweifen. Sie blinzelte. "Oh. Uff. Danke, Hohe...Signor. Das war wirklich sehr umfangreich und erhellend. Sollte vielleicht in ner taktischen und strategischen Besprechung so durchgesprochen werden. Habt Ihr bestimmt aber auch." Lächelte sie, was ihr grobes Gesicht zum Strahlen brachte.

"Aber sagt, mögt ihr Obergäriges? Ich könnte eins vertragen und so langsam knurrt mir auch etwas der Magen, ehrlich gesagt."

Ihr Lächeln wurde breiter. "Ein gutes Bier wäre jetzt nicht schlecht."

Lucrann und Dareius

Nachdem die Tür in Schloss gefallen und der Capitan mit der Ritterin entschwunden war, wandte sich Lucrann an den Sohn seines Knappenvaters. "So, Dareius, jetzt sind wir unter uns." Trotz der ernsten und angespannten Situation, schenkte Lucrann seinem 'Knappenbruder', zu dem er als junger Knappe so ehrfürchtig aufgesehen hatte, ein offenes Lächeln.

Dareius Blick war dagegen ernst. Er sah müde aus. "Amarinto ist nur noch ein Haufen rauchender Trümmer, der Stammsitz meines Hauses beherbergt nun einen Haufen Söldner aus aller Herren Länder, mein Onkel und Großonkel sind gefallen, meine Schwester sitzt im Kerker unserer eigenen Festung und meine Cousine Daria wird im Castell della Leonis festgehalten. Ich will ehrlich sein, Lucrann, es sieht nicht gut aus. Nicht für Sewamund, nicht für das Haus Amarinto. Der Baron kontrolliert die gesamte Baronie Sewamund und alle wichtigen Festungen. Anscheinend hat er auch Schiffe, die den Hafen Sewamunds blockieren können, während die Sewamunder Pfeffersäcke ihre besten Schiffe nach Uthuria geschickt haben. Der Lilienrat ist vollständig auf seine Verbündeten angewiesen, nur Dank Baronin Oleana und dem Concilium Ostreae konnte man eine Streitmacht aufstellen, die stark genug ist um Baron Irion vom Einmarsch in Sewamund abzuhalten. Seine Entschlossenheit und sein unbedingter Wille wurden zu lange unterschätzt und auf eine Verhandlungslösung gehofft." Er seufzte. Dann beugte er sich ein wenig zu Lucrann vor und sprach leiser. "Oleana lässt sich diese 'großzügige Hilfe' fürstlich vergelten. Ihre Forderungen waren...umfassend." Sein Blick sprach eine deutliche Sprache. "Aber wir haben keine Wahl, zu viel steht auf dem Spiel. Für Sewamund und nicht zuletzt für das Haus Amarinto."

Lucrann verschränkte die Arme. Auch sein Blick aus den grasgrünen Augen war dunkel, ernst. Dareius kannte Lucrann als einen leidenschaftlichen und passionierten jungen Knappen, der sich mit Begeisterung auf manche Aufgaben gestürzt und sich mit ebensolchem Widerstreben, aber mit Pflichtbewusstsein, anderen gewidmet hatte. Die Schatten, die über die verengten Augen und das khablagleich perfekte, wie eine alte bosparanische Statue gemeißelte Gesicht huschten, erinnerten Dareius an ein lauerndes Raubtier. "Das Haus Amarinto hat in seiner langen Geschichte manch eine Schlacht gewonnen oder zumindest überstanden. Ich glaube, Irion von Streitebeck hat einen Fehler gemacht, sich mit euch anzulegen, Dareius! Ja, er hat euren Stammsitz erobert, dafür wird er büßen. Genauso, wie für die Gefangennahme Darias und der anderen!" Er erinnerte sich an die dem Leben zugewandte Kämpferin, die ihn als Knappen - die wenigen Male, die sie sich getroffen hatten - mit fröhlichem Lächeln und Lebensfreude immer wieder ermutigt hatte. Sie war nur wenige Jahre älter als er, hatte sich aber ihre Fröhlichkeit bewahrt. Sie jetzt in einem Kerker zu wissen, schmerzte Lucrann. "Dareius, es mag nicht gut aussehen, aber das sah es für manchen Sieger eines Krieges auch nicht. Oleana hat mir grob geschildert, wer alles an eurer Seite kämpft. Und ich sage dir, was ich auch ihr gesagt habe, denn ihr, wir haben einen Vorteil: Wir haben Verbündete, Irion dagegen hat alles zu verlieren. Das können wir ausnutzen, dann wird er Fehler machen."

"Natürlich, du hast Recht. Es sieht nicht gut aus, aber es ist auch noch nichts endgültig verloren. Jedoch ist dieses Bündnis zwischen dem Lilienrat, Selzin und Ruthor fragil. Wir können uns keinen Fehler, keine Unstimmigkeiten, keine Interessenkonflikte erlauben. Der Baron wird sicherlich versuchen unseren Zusammenhalt zu spalten. Ich denke Amarinto war ein solcher Versuch mit einem einzelnen brutalen Ausbruch von Gewalt die nicht den Krieg gewohnten Kaufleute, die Zauderer und Egoisten abzuschrecken und zugleich einen Schlag gegen das Haus zu führen welches ihm militärisch am ehesten die Stirn bieten kann. Ich denke es ist kalte Kalkulation, dass er die Nähe von alten Feinden der Amarinto gesucht hat. Seine Heerführerin ist Usvina Tribêc de Trebesco." Allen aus dem Umfeld der Amarinto war bekannt, dass die Heerführerin des Bethanischen Korps und Dämonenschlachtveteranin nach den Ereignissen der Schlacht von Castarosa ihr Leben vollständig dem Ziel gewidmet hatte die Amarinto für den Verlust ihrer Geliebten büssen zu lassen. Ganz besonders Dareius, der damals im Schlachtgetümmel seine Großtante anstelle von Usvina erschlug, als sie sich in sein Schwert gestürzt hatte, um Usvina vor dem Tod zu retten.

Ein dunkler Schatten huschte über Dareius’ Gesicht. "Mein Gefühl sagt mir, dass bald der Zeitpunkt gekommen ist, an dem ich mich ihr stellen muss und sie ihre Rache einfordern wird."

Lucrann legte dem älteren Dareius, der ihm immer als großer Bruder erschienen war (zumal sein eigener, älterer Bruder Bärowild schon vor Jahren als Knabe verstorben war), seine Hand auf die Schulter. "Ich kenne die Geschichte, Dareius." Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. "Signora Usvina scheint ihren Rachedurst nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Sie lässt sich von ihren Gefühlen überwältigen. Das macht sie unberechenbar - aber sie lässt auch Fehler machen. Darauf solltest du dich vorbereiten." Er drückte mit seiner Hand freundschaftlich zu. "Und wenn es soweit ist, bin ich an deiner Seite."

"Du kennst mich, ich versuche stets auf alles vorbereitet zu sein." Die Schatten waren von seinem Gesicht verschwunden. Er legte Lucrann ebenso die Hand auf die Schulter. "Danke."

Der jüngere Mann schaute ihn an, ihm in die Augen, für einen kurzen Moment, als versuche er, durch die Augen des älteren Mannes hindurch in die Tiefe zu sehen. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, tief Luft zu holen oder zu seufzen - dann schloss er ihn wieder, als unterdrückte er Unausgesprochenes oder einen Seufzer. "Gut. Du kannst mit mir sprechen, wenn du mich brauchst." Dareius nickte knapp.

Dann wies er auf die strategische Karte vor ihm. "Der Kern seines Heeres liegt vor Amarinto, aber zwei kleinere Abteilungen lagern auch in Mabêc und Kosgarten." Er zeigte neben Amarinto auch auf zwei kleine Weiler nordöstlich und östlich von Sewamund. "Er kontrolliert ansonsten die gesamte Baronie und die Stadtmark, sowie den Sewak, den Dämonenstieg und die Silem-Horas-Straße. Es gäbe also drei Möglichkeiten, mit eigenen Truppen in die Baronie vorzurücken: Durch die Stadttore, mit Fähren über den Sewak oder bei Veliris durch die Furt über den Sewak. Alle drei Varianten sind nachteilig für uns. Wenn wir die Stadt durch die Stadttore verlassen ist das Heer des Barons vorbereitet und kann uns in eine ungünstige Position drängen, grössere Truppenansammlungen mit Booten über den Sewak zu bringen ist gefährlich und bietet dem Gegner eine offene Flanke und die Furt bei Veliris liegt in der Baronie Veliris und mit Truppen durch die Ländereien von Veliris zu ziehen könnte Baron Alricilian zu veranlassen auf Seiten Irions in den Konflikt einzutreten. Freiwillig zulassen wird er es ohnehin nicht. Zugleich kann der Baron die Stadt nicht belagern, da die Brücke über den Sewak nach Ruthor offen ist und die Stadt weiterhin versorgt werden kann. Zudem hat er kein Interesse daran, die Stadt zu zerstören, die er beherrschen will. Ein strategisches Patt also."

Lucrann lauschte und folgte mit Augen und gerunzelter Stirn den Handbewegungen Dareius', mit denen er die entsprechenden Stellen anzeigte. Er stützte sich mit einer Hand auf den Tisch, mit der anderen rieb er sich nachdenklich das Kinn. Nach einigen kurzen Augenblicken - hatte der gebürtige Nordmärker nachgedacht? - hob er sein Gesicht und schaute den Constabler an. "Tja, schwierig, schwierig. Einer muss also den ersten Zug machen, sonst steht man sich ewig ohne Ergebnis gegenüber." Er richtete sich wieder auf und verschränkte die Arme vor seiner Brust. "Das kann sich in die Länge ziehen und nicht nur gutes, dann unnötiges Gold kosten, das man lieber in Feiern und Feste steckt. Oder die Söldner werden unruhig und beginnen das Umland zu plündern, das kennen alle." Er runzelte die Stirn und ließ seinen Blick noch einmal über die von Dareius bezeichneten Stellen schweifen. Seine Augen bewegten sich, als verschiebe er gedanklich Truppen und Einheiten.

"So auf die Schnelle, Dareius, sehe ich zwei Möglichkeiten: Entweder wir setzen gezielt kleinere Einsatzkräfte ein, um Baron Irions Truppen zu behindern und zu stören." Er schaute dem Constabler ins Gesicht, schaute auf die Mimik und die Reaktionen desselben - Lucrann ahnte, dass ihm diese Taktik nicht gefallen würde. "Oder...oder es wird direkt eine offene Schlacht verhandelt, um Unbeteiligte, Umland und Ressourcen zu schonen."

Dareius nickte gedankenversunken. "Ja, wir müssen auch damit rechnen, dass die Truppen des Barons das Patt brechen wollen. Wir können aber nicht den gesamten Sewak überwachen und wenn er eine Übereinkunft mit dem Baron von Veliris trifft und durch dessen Lande zieht, werden wir es nicht kommen sehen." Er seufzte. "Leider haben wir eine durchaus einflussreiche Fraktion im Lilienrat, die immer noch an eine friedliche Lösung glaubt, die in Gedanken nur bei ihren Handelswegen und Profiten sind und glaubt, mit Gold könnte man alle Probleme lösen. Sie können sich nicht durchringen alles auf einen militärischen Sieg zu setzen, bevor der Herzog zurückkehrt. Sie unterschätzen Cusimo Garlischgrötz' Unberechenbarkeit. Ja, der Herzog braucht Gold und natürlich will er vor allem Ruhe in seinen Landen. Aber er ist auch berüchtigt für seine überraschenden Winkelzüge und unkonventionellen Entscheidungen. Sie glauben, er würde kommen und das Naheliegende tun, das Vernünftige. Aber wann hat unser Herzog jemals das getan, was die Leute von ihm erwarten?" Dareius lachte trocken. Es war deutlich, dass er den Herzog von Grangor für seine Exzentrik auch ein wenig bewunderte. "Er wäre nicht der mächtige Herzog des Westens, Diener zweier Kaiser und Admiral der mittelreichischen Westflotte wenn er stets den Ratschlägen dieser Leute gefolgt wäre."

Lucrann lachte. Herzlich, schallend, offen. "Ob du es glaubst oder nicht, ich mag Comto Cusimo. Weil er eben nicht das tut, was die Leute, vor allem der Adel, von ihm erwarten." Er grinste breit. "Wie alt ist er jetzt? Achtzig Jahre? Neunzig Jahre?" Dareius schnaubte. "Der Herzog wird bald 75." Lucranns Grinsen wurde breiter. "Und trotzdem feiert er, trinkt, liebt Frauen..." Er zuckte mit den Achseln. "...gut, dass er Prinzessin Heldora damit nicht so nett behandelt, kreide ich ihm an."

Dareius zuckte mit den Achseln und macht einen Gesichtsausdruck, der deutlich sagte: "Dann soll sie sich doch auch Liebhaber suchen." Der horasische Adel konnte den Geboten Travias offensichtlich deutlich weniger abgewinnen als denen Rahjas.

Sein Grinsen schmolz jedoch dahin und er verschränkte seine Arme wieder. "Tja, was will der Lilienrat eigentlich? Wir haben eine Pattsituation. Sogar kleinere, störende Attacken sind aus geografischen und politischen Gründen nicht möglich. Also hocken wir in Sewamund und Signor Irion im Umland und...ja, was? Starren uns an?" Lucrann schnaubte. "Meint der Lilienrat etwa, Aussitzen führt zum Sieg? Oder überzeugt den Herzog, Signor Irion den Titel abzuerkennen? Erkaufter Frieden." Lucrann schnaubte. "Hat nicht Irion schon versucht, seine bisherige Position zu erkaufen oder sogar zu erschleichen? Wie sicher wäre ein erkaufter Frieden denn?" Der hochgewachsene Nordmärker seufzte. "Dareius, ich habe dir meine Einschätzung der Lage mitgeteilt. Es gibt Möglichkeiten – doch der Flaschenhals, in dem alles hängenbleibt, ist der Lilienrat." Er zog die Augenbrauen zusammen und runzelte die Stirn. "Wir haben keine militärische Handlungsunfähigkeit..." Ruckartig deutete er fuchtelnd mit der linken Hand irgendwo nach oben. "...Da oben läuft der Capitan der Sewakgarde..." und dann auf Dareius. "...du bist der mächtige Constabler Ruthors..."

Kurz darauf senkte er den Blick, dann hob er ihn wieder und sah Dareius aus seinen eigenen grasgrünen Augen und in dessen blaugraue. Er musste weder zu ihm auf- noch herabsehen. Die beiden jungen Männer waren gleich hochgewachsen wie kräftige Eichen. "Und auch wenn ich nur ein einfacher nordmärkischer Junker und landloser Cavalliere der Baronin von Ruthor bin – ich lasse dich nicht allein." Er ballte beide Hände zu Fäusten und zog sie an seinen Körper heran. "Ich glaube, wir könnten handeln, wenn schon nicht mit gezielten Kleinaktionen, dann mit der Ankündigung einer offenen Feldschlacht, wenn wir es schaffen, den Lilienrat zu überzeugen, dass jetzt etwas getan werden muss."

"Ja, ein schneller Schlag mit der geballten Kraft unserer Truppen auf die Hauptstreitmacht des Barons wäre wohl unsere beste Chance, wenn wir unser Schicksal nicht in die Hände des Herzogs legen wollen." er seufzte. "Aber danke, Lucrann. Ich bin mir sicher, ich werde auf deine Hilfe noch zurückkommen müssen. Sollte es zur Schlacht kommen, will ich dich an meiner Seite haben. Im Zentrum der Schlachtreihe." Die Worte waren nicht einfach nur dahingesagt.

Lucrann rieb sich in theatralischer Gestik mit beiden Händen über das Gesicht und strich sich dann durch die rotbraunen Haare. "Oaaarrrr..." knurrte er grinsend. "Das klingt nicht Spaß, mein Freund." Er schaute Dareius in die Augen. Lächelte. "Bei Lev...den Göttern...Dareius, wenn wir das überleben, dann bist du mir aber sowas von schuldig."

Der Constabler nickte trocken. "Wenn wir das überleben, werden uns einige Leute etwas schuldig sein." Lucrann sah sich um. "Sollten wir nicht notwendige Details mit deinem Capitan besprechen? Wo ist er überhaupt? Und meine Ritterin - sind die beiden etwa jetzt durchgebrannt?"

Später beim Essen

"Ah, genau das hab ich jetzt gebraucht." Noch ganz in seinem eigenen Rhythmus ließ Praiodan sich in den Stuhl sinken. Jetzt, in wohlig berauschtem Zustand, schien er auch die anderen Esser wahrzunehmen. Mit einem kleinen Rucken korrigierte er seine Haltung und fing an, eine passendere Etikette zu zeigen. "Gibt es eigentlich Neuigkeiten aus Ruthor wegen dem Land in Trafiume? Ich habe etwas Sorge, dass die Baronin ihre Unterstützung daran knüpfen könnte, umstrittenes Gebiet ihrer Kontrolle zu verantworten. Und ich bin kein Kaufmann, aber selbst ich kann sehen, warum zwei Rivalen auf beiden Seiten einer Brücke nicht gut für den Handel ist..."

Lucrann, der nordmärkische Horasier oder horasische Nordmärker, hier jedoch als Cavalliere der Baronie Ruthor und damit in Diensten des Constabler von Ruthor stehend, schaute erst den Capitan, dann den Constabler an. "Dann sollten wir dafür sorgen, dass dieser Konflikt beendet wird. Und dafür..." wieder schaute er Dareius, seinen Freund und älteren Bruder, den einzigen, den er nach dem Tod seines leiblichen Bruders hatte, an. "...müssen wir erst einmal den Lilienrat von einer konzertierten Aktion überzeugen."

Dareius nickte. Lucrann hatte Recht. Er wandte sich wieder an den Capitan der Sewamunder Garde. "Der juristische Status von Trafiume ist tatsächlich weiterhin unklar. Dieser Stadteil Sewamunds hat sich angeblich aus einem einzelnen Zollhaus entwickelt, welches der damalige Baron von Sewamund aus dem Haus Selzin aus seinem eigenen Landbesitz herauslöste. Entscheidend war ein Passus im Vertrag, laut dem das Zollhaus mitsamt 'Grundstück' an die Baronie Sewamund übergeben wurde. Eine spätere Baronin erkannte, dass dieses Grundstück aufgrund sprachlicher Ungenauigkeiten anscheinend nicht nur den Bereich um das Haus umfasste, sondern da das Zollhaus ursprünglich ein Bauernhof war, auch die landwirtschaftlichen Flächen sowie 'unzugängliches Marschland' in der näheren Umgebung. Daraufhin bauten die Barone von Sewamund Trafiume zu einer Befestigung aus, um die Brücke über den Sewak und damit auch die Stadt zu sichern. Jedoch birgt diese Frage weiterhin enormes Konfliktpotential. Der frühere Maestro und Chronist Sewamunds, Romun Tamarisco, war sich jedenfalls sicher, dass man den alten Vertrag so deuten könnte, dass Sewamund ein Gebiet von fast einem Dutzend Hufen südlich des Sewak in für sich beanspruchen könnte. Während die Ruthorer Position stets war, dass Sewamund nur das Zollhaus, sowie dessen nächste Umgebung erhalten hatte."

Lucrann hatte zugehört. Trafiume, das Sewamund vorgelagerte Stadtteilchen, ein sewamunder Vorsprung in den ruthorer Garten. Er unterdrückte ein Seufzen, diese juristischen Spielereien überließ er - obwohl selbst nicht unerfahren oder ungebildet in der Juristerei und Staatskunst - lieber jenen, die sich damit besser auskannten. Oder die viel mehr Lust als er an dieser Art von Zeitvertreib hatten. "Noch hat die Baronin von Ruthor ja keine Bedingungen derart gestellt." wandte er ein. Etwas, was sicherlich geschehen mochte, wenn Oleana di Bellafoldi noch die dazu nötigen Informationen erhalten würde. "Wir haben also mit Trafiume einen Zankapfel zwischen der Baronie Sewamund, der Stadt Sewamund und der Baronie Ruthor. Aber vielleicht sollten wir diesen Streit..." Der schöne Mann betonte die letzten beiden Worte. "...dann ausfechten, wenn wir den größeren, ersten gewonnen haben? Verlieren wir, können sich Irion von Streitebeck und Oleana die Bellafoldi um diesen Knochen balgen." Und er als Cavalliere der Baronin von Ruthor würde wahrscheinlich wieder mitbalgen müssen. Vielleicht sollte er doch diesen Streit rechtzeitig vorher zu lösen helfen.

Dareius nickte. "Ja, dann lasst uns erstmal dem Streitebeck seine Grenzen aufzeigen. Um den Rest kümmern wir uns danach..." Er lächelte, doch in sein Lächeln schlichen sich auch Sorgenfalten. Es lagen große Herausforderungen vor ihnen und vielleicht würden nicht alle von ihnen lebendig daraus hervorgehen.