Briefspiel:Der Drache erwacht (3)
27. Travia 1046 BF, Feste Amardûn in Amarinto
Autor: Amarinto
Zusammenfassung: Die Bannerträger-Ottajasko unter Condottiera Snorri Gerjannasdottir umgeht die feindlichen Linien und erobert in einer Kommandoaktion die Feste Amardûn, den Stammsitz des Hauses Amarinto, von den Verbündeten Irion von Streitebecks zurück. Dabei werden auch die dort eingesperrten Familienmitglieder Amarinto befreit.
Die Sonne stand hoch am Himmel, ihre Strahlen wärmten die Mauern der Feste Amardûn, während am Norderkoog die entscheidende Schlacht um Sewamund tobte. Die Festung schien nahezu verlassen, bewacht nur von der eilig zusammengezogenen Miliz aus Odilshus unter der strengen Führung von Miliz-Capitana Siefe ter Bilgerhich, der Tochter des Bürgermeisters.
Die Thorwaler der Bannerträger-Ottajasko näherten sich währenddessen lautlos mit ihrem Drachenboot über die Bucht von Grangor, verborgen durch das grelle Sonnenlicht, das sich auf den Wellen brach. Condottiera Snorri Gerjannasdottir führte sie an, ihr Haar zu einem dicken Zopf gebunden, ihre blauen Augen wachsam und entschlossen. Die Ottajasko landete außerhalb des Dorfes hinter den Deichen an und bewegte sich leise in das kleines Wäldchen aus Tamarindenbäumen am Rande des Dorfes Amarinto, wo ihnen wie von Efferdia di Bellafoldi beschrieben ein versteckter Geheimgang den Zugang zur Festung ermöglichte.
Der Geheimgang, verborgen zwischen knorrigen Wurzeln und dichtem Unterholz, führte die Thorwaler direkt unter die Mauern von Amardûn. Schritt für Schritt, gebückt und aufmerksam, drangen sie vor, während ihre Herzen schneller schlugen, bereit für die Schlacht. Im Kerker der Festung saßen Josmina Galfard und Fulminia d'Illumnesto seit Wochen eingesperrt. Ihre Rüstungen waren ihnen genommen worden, doch nicht ihr Stolz. Fulminia, Ordensritterin des Heilig-Blut-Ordens, saß aufrecht, das Gesicht ruhig, während in der Zelle daneben Josmina ruhelos umherwanderte, jede Faser ihres Körpers von Wut und Ungeduld erfüllt, seit sie miterleben musste, wie ihr geliebter Gatte bei der Eroberung der Burg gefallen war.
Als plötzlich der Schlüssel im Schloss knirschte, sahen beide Frauen wachsam auf. Doch anstelle ihrer Wärter traten die bewaffneten Thorwaler der Bannerträger-Ottajasko in den Kerker. Condottiera Snorri nickte ihnen zu und hielt ihnen ihre Waffen entgegen: "Eure Schwerter, Signoras. Wir sind hier auf Befehl von Rondrarich von Streitebeck und Dareius Amarinto."
Ohne zu zögern griffen Josmina und Fulminia nach den angebotenen Waffen. Der Kampfgeist loderte in Josminas Augen hell auf, während Fulminia tief Luft holte, sie hatte nicht erwartet, auf diese Weise freizukommen. Sie bewegten sich rasch und entschlossen durch die Korridore, der Klang ihrer Stiefel hallte hohl von den Steinwänden wider. Snorri führte ihre Ottajasko durch enge Gänge hinauf zum Burgfried, während Josmina und Fulminia die Flanke sicherten. Die überraschten Verteidiger konnten der Entschlossenheit und Stärke des Überraschungsangriffs kaum etwas entgegensetzen. Doch Capitana Siefe ter Bilgerhich erkannte vom Burgfried aus rasch, was geschehen war.
Josmina Galfards letzter Kampf
Mit grimmiger Entschlossenheit rief Siefe ihre Männer und Frauen zusammen, sammelte sie hinter den großen Toren des Burgfrieds und stürmte überraschend mit wütendem Gebrüll den Eindringlingen entgegen, als diese sich gerade im Festungshof sammelten. Im Zentrum des Kampfes traf sie auf Josmina Galfard, deren Blick von Zorn und Entschlossenheit erfüllt war. Beide Frauen stürzten aufeinander zu, Schwerter klirrten laut und funkelnd unter dem blendenden Sonnenlicht. Josmina schlug hart und schnell zu, ihre Bewegungen präzise und tödlich. Doch Siefe, jung, kräftig und nicht minder entschlossen, parierte jeden Schlag, ihre Augen kühl und konzentriert. Umgeben vom Chaos des Kampfes schien die Zeit stillzustehen, als sich die beiden Frauen einen erbitterten Kampf lieferten.
Schließlich gelang es Siefe, eine Schwäche in Josminas Verteidigung auszumachen. Mit einem kraftvollen Hieb durchbrach sie deren Deckung, trieb ihre Klinge tief in Josminas Brust. Die alte Ritterin fiel schwer getroffen zu Boden, Blut floss aus ihrer tödlichen Wunde. Dennoch hielt sie fest entschlossen ihr Schwert in der Hand. Mit letzter Kraft stieß sie der Miliz-Capitana ihr Schwert in die Seite und und einen Kampfschrei aus, der ihre Gefährten antrieb und es ihnen ermöglichte, die verwundete Siefe ter Bilgerhich zu überwältigen.
Fulminia sah den Tod Josminas und griff mit der Wucht eines zornigen Sturmes in den Kampf ein. Umringt von Feinden kämpfte sie, getrieben von heiligem Zorn. Ihre Gegner fielen, einer nach dem anderen, während Fulminia, in blutgetränkter Kleidung und mit feurigem Blick, unverwundbar schien. Unterdessen wurde Snorri Zeugin, wie einer ihrer Kameraden, der junge Krieger Asgrim, von drei Gegnern bedrängt wurde. Ohne zu zögern sprang sie in die Bresche, schlug einen Gegner mit gewaltigem Hieb ihrer zweihändigen Axt nieder und stellte sich schützend vor ihren Kameraden, bis die anderen ebenfalls fielen.
Der Widerstand der Miliz brach endgültig zusammen. Siefe ter Bilgerhich, schwer verwundet und entkräftet, wurde von den Thorwalern gefangen genommen, während ihre verbleibenden Milizionäre panisch die Flucht ergriffen und sich aus der Feste zurückzogen. Amardûn war zurückerobert, doch der Preis war hoch. Fulminia d'Illumnesto kniete neben dem leblosen Körper Josminas und murmelte ein Gebet für die gefallene Heldin, während Snorri, erschöpft aber siegreich, den Blick auf die nunmehr ruhige Festung richtete.
Auf den Zinnen von Amardûn
Der Nachmittag war angebrochen, Blut und Staub klebten an den Steinen, an den Rüstungen, an der Haut. Vom Burghof drang das dumpfe Stöhnen der Verwundeten empor, unterbrochen vom Klirren von Metall und dem gedämpften Rufen der Thorwaler-Söldner, die die Toten bargen und die Lebenden versorgten. Fliegen summten bereits über den gefallenen Körpern und der Geruch von Eisen, Rauch und Schweiß lag schwer in der Luft. Auf den Zinnen des Burgfrieds standen zwei Frauen, Seite an Seite. Fulminia d'Illumnesto, noch immer mit Blut bespritzt, ihre linke Schulter notdürftig verbunden, hielt sich am Wehrgang fest. Neben ihr lehnte Condottiera Snorri Gerjannasdottir an der Brustwehr, eine Hand auf den Axtgriff gestützt, die andere zum Schutz über die Augen gelegt. Beide blickten hinaus, über die Marschlandschaft des Norderkoogs, wo in der Ferne — kaum mehr als dunkle Schatten im flirrenden Licht — noch immer die Schlacht um Sewamund tobte.
Die Schreie dort waren nur als fernes Echo zu vernehmen. Wie das letzte Aufbäumen eines sterbenden Tieres.
"Sie kämpfen noch", murmelte Snorri. Ihre Stimme war heiser von den Befehlen, die sie gebrüllt hatte. "Vielleicht ist das ein gutes Zeichen."
Fulminia schwieg einen Moment, ehe sie antwortete. "Es muss reichen." Ihre Stimme war ruhig, doch da war ein Riss darin. "Sonst war Signora Josminas Tod umsonst. Sonst..." Sie atmete tief durch, dann wandte sie sich ab und schloss die Augen. "Sie hat ihr Leben gegeben, damit wir diese Mauern zurückerobern."
Snorri nickte langsam. "Sie war zäh. Zäher, als ich gedacht hätte. Ich..." Sie stieß ein schiefes Lächeln aus. "Ich hatte nie viel übrig für euch Ritter mit euren Regeln und Ehrenkodizes. Aber die da...die hatte Feuer. So ein Feuer hab ich lang nicht mehr gesehen."
"Sie hat gekämpft, um zu sterben", sagte Fulminia leise. "Nicht aus Todessehnsucht, sondern aus Pflicht. Und weil sie wusste, dass sie nichts mehr zu verlieren hatte nach dem Tod ihres Mannes."
Snorri schwieg, spuckte über die Mauer. "Wir verlieren immer", murmelte sie dann. "Freunde, Kameraden, Liebste. Die Frage ist nur, ob es zählt. Ob's am Ende etwas bringt."
Fulminia öffnete die Augen und richtete den Blick erneut gen Süden. Ein einzelner Schwarm Krähen zog kreischend über das Marschland, verschwand dann in den Wäldern. "Wir werden sehen, ob es etwas bringt", sagte sie. "Doch ich werde jeden Tag, den ich noch lebe, dafür sorgen, dass es nicht umsonst war. Für Josmina und auch für meinen Gatten Rimaldo."
Ein Windstoß kam auf und ließ die Fahnen über dem Burgfried flattern. Das Banner des Hauses Amarinto wehte dort wieder neben dem Banner der Stadt Sewamund. Sie sahen sich an. Zwei Frauen aus gänzlich verschiedenen Welten. Die eine, eine Seewölfin, eine hartgesottene Söldnerin. Die andere ein Ordensritterin, geformt von Disziplin, Glaube und Pflicht. Verbunden nun durch Blut, den gemeinsamen Kampf, durch den Verlust.
Unten begann ein Thorwaler, ein Lied anzustimmen, leise erst, dann lauter. Ein Totenlied, wie es seit Jahrhunderten in Olport gesungen wurde. Andere fielen ein. Ihre Stimmen hallten von Burgmauern wider. Die beiden Frauen auf den Zinnen blieben stehen, den Blick nach Süden gerichtet...und keiner von beiden sprach mehr ein Wort.