Briefspiel:Plötzlich Delegierte/Treffen in Vinsalt V
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Treffen in Vinsalt - Teil V: Die ersten Gäste nach langer Zeit im Palazzetto Urbet
Auricanius war zufrieden mit den Vorbereitungen, die die Bediensteten im zwei Götterläufe vernachlässigten 'Palazzetto' seines Hauses getroffen hatten. Nur deshalb gönnte er sich jetzt auch einen Moment allein. Wer wusste schon, wann er einen solchen in den nächsten Wochen und Monaten wieder haben würde, noch dazu in den eigenen vier Wänden? Er ging nicht davon aus, während seiner Reise zur Trollpforte allzu oft in diesen Genuss zu kommen. Und doch fühlten sich schon die Wände, die ihn jetzt umgaben, nicht so wirklich nach 'seinen' an.
Das Studiolo, durch dessen Fenster er auf die sich langsam dem Horizont im Westen nähernde Praiosscheibe sah, war gewissermaßen noch immer Panthinos Refugium. Sein Vorgänger als Baron und Familienoberhaupt hatte rund sieben Jahre hier gelebt, bevor er in den Gassen nicht weit entfernt eines Abends ermordet wurde. Schon während seiner gelegentlichen Aufenthalte danach, besonders bis zum Urteil über den Ketzer und Hochverräter Sumudan Talligon, der wahrscheinlich auch Drahtzieher des Mords an Panthino war, hatte sich Auricanius manches Mal gefragt, wie innerlich einsam sein Vorgänger hier – inmitten der größten Stadt des Horasreichs – bis dahin gelebt hatte. Wirklich glücklich war sein zwölf Götterläufe älterer Vetter nach der Feuernacht, die ihn Gemahlin, Mutter und einen Sohn kostete, nie wieder gewesen, mutmaßte er.
Mit dem mulmigen Gefühl, das er selbst in diesem Haus hatte (und das nicht mal hauptsächlich wegen dessen Nähe zu den Palästen der Case Fondari, darunter eben der Talligons), schien auch Poldoron zu kämpfen zu haben, der Auricanius' Neffen Nepolemo vor einer Weile hierher begleitete. Poldoron, seine Schwester Haldana und Nepolemo hatten den weiteren Nachmittag zusammen in Vinsalt verbracht. Der Praios-Novize war jedoch der einzige von ihnen, der die anstehende 'Gesellschaft der Tugenden' einem abendlichen Ausflug in die Tavernen Vinsalts vorzuziehen schien. Dass die anderen beiden, beides Kinder Panthinos, den Aufenthalt im 'Palazzetto' zu dieser Gelegenheit vermieden, konnte Auricanius ihnen auch aus anderen Gründen nicht verdenken.
Gedankenverloren ließ er seine Finger über die Einrichtungsgegenstände seines Vorgängers fahren, von denen manche trotz der Bemühungen seiner Bediensteten zur Grundreinigung des Hauses Staubspuren auf den Fingerkuppen hinterließen. Der Baron nahm es gelassen, würde das Studierzimmer doch nicht Ort der anstehenden Gesellschaft sein.
Die spannendste Frage der nächsten Stunden war eine andere: Was würde zwischen Rahjada und ihrem Vater passieren? Auch die trieb ihn um. Er war sich unschlüssig, inwieweit er Rahjalin im Vorfeld, gegebenenfalls bei seiner Ankunft, noch Empfehlungen dafür mitgeben sollte. Der Rahja-Geweihte hatte sich ihm in der Villa Ricarda mit so selbst vernichtender Kritik geöffnet, dass er einerseits glaubte, keinerlei Hilfestellung mehr geben zu müssen. Andererseits war die Gesellschaft, in der er sich später befinden würde, ein Pflaster für sich, ein Rahmen, vor dem er sich möglicherweise mehr zu rechtfertigen gezwungen sähe, als es dem Verhältnis zu seiner Tochter zuträglich sein dürfte. Inwieweit es vor den anderen überhaupt zu einem Austausch zwischen den beiden kommt, war ohnedies schwer abzuschätzen und hing wohl von einer Vielzahl an Faktoren ab.
Auricanius hatte dies schon bei der Auswahl der anderen Gäste zu berücksichtigen versucht – etwa bewusst niemanden eingeladen, dem gegenüber Rahjalin sich von Amts wegen in Erklärungsnöte bringen musste. Dennoch war der Drang groß, ihm noch dies mitzugeben: 'Egal was deine Tochter dir heute … direkt oder durch die Blume … vorwirft, streite es nicht ab und verteidige dich nicht.' Wenn er seine Liebe zu Rahjadas Mutter ausdrücken könnte, dürfte das dem Verhältnis zu seiner Tochter am besten zuträglich sein …
Ein Läuten der Türglocke schreckte den Praios-Geweihten schließlich aus seinen Gedanken auf.
„Monsignor?“
Die gedämpfte Stimme eines seiner Bediensteten aus dem Korridor schien sich vergewissern zu wollen, dass der Hausherr – so wenig er sich selbst als solcher sehen mochte – das Geläut, das wohl die Ankunft der ersten Gäste ankündigte, auch gehört hatte.
„Ich komme“, antwortete Auricanius und ließ das Studiolo hinter sich zurück.
Rohalion hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Am Morgen war er im Waisenhaus eingesetzt worden, um den Kleinen die Grundlagen des Lesen und Schreibens beizubringen. Er liebte diese Arbeit, denn er trat den Rückweg zum Tempel des Verborgenen Wissens jedes Mal mit einem wohlig prickelnden Gefühl an, eine gute Tat vollbracht zu haben. Ganz abgesehen davon spürte er eine tiefe Verbindung zu den Waisenkindern, wäre er doch selbst ein Teil dieser Familie geworden, wenn er nicht damals mit vier Jahren seiner Zieh- und mittlerweile Weihmutter aufgefallen wäre, weil er bereits besser lesen und mit einem größeren Wortschatz kommunizieren konnte als selbst die sechsjährigen Waisenkinder.
Gegen den Morgen hatte er also nichts auszusetzen gehabt. Ganz im Gegenteil: Seine frühere Ziehmutter, eine herzensgute Travia-Geweihte, hatte ihn an sich gedrückt, geküsst und gar nicht mehr weggehen lassen wollen, obwohl er sie nicht als Mutter sah, er erinnerte sie ja kaum an sie. Seine Familie waren doch seine Glaubensgeschwister und all die Bediensteten im Nandus-Tempel, mit denen er aufgewachsen war! Irgendwie hatte es ihn trotzdem gerührt, dass sie ihn anscheinend noch als ihr Kind betrachtete, er hatte sogar ein bisschen weinen müssen.
Der Nachmittag war dann weniger angenehm geworden. Ein gestresst wirkender Geweihter hatte ihm erklärt, er müsse heute nicht nur eine Vorlesung über das Wesen Nandus‘ im Hesinde-Tempel halten, wie eigentlich geplant, sondern davor auch noch die älteren Nandusnovizen unterrichten, weil eine seiner Glaubensschwestern mit einer Frühlingsgrippe im Bett lag. So war er von einem Ort zum Anderen gehetzt, um am frühen Abend endlich etwas Ruhe zu finden, als ihn überraschend seine Freundin Rahjada besuchte und einlud, mit ihr einer Abendgesellschaft beizuwohnen. Überrumpelt hatte er ohne nachzudenken zugesagt. Nun, etwas Gutes hatte es auch: Wenn er heute Abend weg war, konnte ihn niemand mehr mit Aufgaben zuschütten, was die gefühlte Lieblingsbeschäftigung aller älteren Priester war. Und er hatte gedacht, nach dem Noviziat würde er endlich kein Handlanger mehr sein!
Die Sonne war gerade am untergehen und tauchte Vinsalt in ein warmes, ringelblumenfarbenes Licht, das einem leichter ums Herz werden und die gerade noch dagewesene Erschöpfung weit weg erscheinen ließ. Sie trafen sich an ihrer üblichen Straßenecke, die auf mittlerer Strecke zwischen Rahjadas Wohnung und seinem Tempel lag. Auf dem Weg zum ‚kleinen‘ Palazzo, in dem die Gesellschaft stattfinden sollte, sammelten sie noch Rahjadas Amtskollegin, die Luminifera Praialissa, ein. Während sie locker plauderten, stellte er fest, dass sie eine überraschend umgängliche Praiotin war. Fast hatte er den Eindruck, als versuche sie zu beweisen, dass es auch weltoffene, nette Geweihte des Götterfürsten gab.
Das, was Rahjada einen kleinen Familienpalazzo genannt hatte, übertraf Rohalions Erwartungen bei Weitem. Er schielte ungläubig zu seinen Begleitern, doch die wirkten unbeeindruckt. Vielleicht war er ja der einzige, der den Palazzo noch nicht kannte. Oder – was ihm bei einem Blick auf den Schmuck und die Kleidung der anderen wahrscheinlicher erschien – er hatte einfach andere Maßstäbe.
Als Praialissa nach vorne ging, um die Türglocke zu läuten, zupfte Rahjada ihn am Ärmel und zog ihn beiseite. Nervös strich sie sich eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht. Das matte Abendlicht brachte einen kaum merklichen Rotstich in ihrem Haar gut zur Geltung und ließ ihn Goldsprenkel in ihren braunen Augen erkennen, die ihm zuvor noch nie aufgefallen waren.
„Rohalion, mein Vater ist auch da“, flüsterte sie.
„Dein Vater?“, echote er. Seine Augen wurden groß. Natürlich wusste er, dass Rahjada Halbwaisin war. Es war vielleicht einer der Gründe, warum sie sich von Anfang an so gut verstanden hatten: Sie kannten beide nicht die Selbstverständlichkeit mit der die meisten Kinder ihre Eltern als gegeben betrachteten. Er kannte auch die Umstände, unter denen ihr Vater sie anerkannt hatte, und warum sie keinen Kontakt mit ihm suchte.
„Ist er nicht … Rahja-Hochgeweihter in Urbasi?“, fragte er, um irgendetwas zu sagen.
„Ja. Und er ist hergekommen, um mich zu sehen. Wahrscheinlich will er sich wieder entschuldigen.“
Die Art, wie sie das sagte, fühlte sich mit einem Mal an, als hätte ihm jemand mit einem Immanschläger eine Rippe gebrochen. Er schluckte.
„Rahjada, sag das nicht so. Immerhin ... immerhin hast du jemanden, der zu dir kommt, um sich zu entschuldigen.“ Abrupt drehte er sich weg.
Er spürte eine sanfte Berührung an seiner Schulter, sie trat wieder in sein Blickfeld. Mitleid und vor allem Schuldgefühl standen ihr eindeutig ins Gesicht geschrieben.
„Tut mir wirklich Leid, das hätte ich nicht sagen dürfen. Ich weiß manchmal einfach nicht, ob ich jemals dankbar sein kann … nach allem, was er getan hat.“
Der stechende Schmerz in seiner Brust war so plötzlich vergangen, wie er gekommen war. „Nein, nein, schon gut, mir tut es Leid.“ Er nahm ihre Hand. „Ich kann nur nicht länger mitansehen, wie du dich selbst quälst und die Chance, die offen vor dir liegt, nicht siehst. Und was für eine Chance! Du kannst einen Vater haben, Rahjada! Und zudem noch einen, der bis nach Vinsalt reist, um dich zurückzubekommen. Das ist wertvoller als alles Gold der Welt und nur ein ganz bisschen weniger wertvoll als alles Wissen der Welt.“
Rohalion grinste und sie musste ein bisschen mitgrinsen. Sie biss sich nachdenklich auf die Unterlippe.
„Und ich werde nicht länger mitansehen, wie du dieses Geschenk ablehnst.“
Bei diesen Worten drückte er ihre Hand und lächelte sie an. Ein leichtes Nicken war die Antwort und ein leichtes Nicken war alles, was er sehen wollte. Zum zweiten Mal heute breitete sich das wohlige Gefühl in ihm aus, eine gute Tat vollbracht zu haben. Noch war die Tat jedoch nicht vollbracht, erinnerte er sich, als sie sich wieder zu Praialissa gesellten und just in dem Moment Rahjadas Dienstherr in der Tür erschien.
Etwas nervös beim Anblick des praiosgeweihten, hohen Adligen wurde Rohalion dann doch und er versuchte vergeblich, sein widerspenstiges, schwarzes Haar zu glätten. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, es zu kämmen oder sich irgendwie anders herzurichten. Edle Kleidung oder Schmuck, abgesehen von seinem Nandus-Amulett, besaß er ohnehin nicht. Als die beiden Damen knicksten, verneigte er sich zeitgleich. Die Etikette möglichst vieler Kulturen und Gesellschaftsschichten abzudecken, war immerhin erklärtes Ziel seiner Ausbildung gewesen und er hatte vor, sich seines Geweihtenstatus als würdig zu erweisen.
„Einen wunderschönen Abend, Monsignor“, sagte Rahjada neben ihm und lächelte formvollendet. „Darf ich Euch meine Begleitung vorstellen? Seine Gnaden Rohalion von Vinsalt.“
Als sie auf ihn deutete, senkte er erneut den Kopf. „Es ist mir eine Ehre, Monsignor.“
„Grazioso“, gab Auricanius freundlich lächelnd zurück. „Signora, Reverenda“, betonte er die Anreden seiner beiden Delegierten danach noch etwas mehr und nickte ihnen zu.
„Willkommen im Haus meiner Familie in der Hauptstadt.“
Dabei machte er eine einladende Geste.
Links und rechts des Eingangs standen eine Handvoll Bedienstete Spalier, die das große Portal wohl erst geöffnet hatten, als ihr Dienstherr beinahe davor angekommen war. Auch Nepolemo, der Novize, stand schräg versetzt hinter seinem Onkel und verneigte sich leicht vor den Neuankömmlingen.
Sie alle befanden sich in einer zweigeschossigen Eingangshalle, in der rechterhand eine breite, freitragende Treppe zu einer Galerie im Obergeschoss führte. Mehrere Türen gingen sowohl dort wie auch im Hochparterre, in dem sie sich befanden, von der Halle ab. Ein Kandelaber und zwei Lüster, offenbar frisch entzündet, beleuchteten den Raum, dessen besonderer Akzent indes ein sich an der linken Wand über beide Geschosse erstreckendes Monumentalgemälde war. Auf diesem waren mehrere kriegerische Gestalten, ein Dutzend wohl, angetan in roten Wappenröcken mit einem silbernen Löwen darauf, an einer Tafel zu sehen. Eine junge Kriegerin stach als wahrscheinliche Anführerin heraus.
„Ihr seid die ersten Gäste hier seit längerem“, erläuterte Auricanius.
Wie oft hatte er selbst bei seinen Aufenthalten in der Hauptstadt das Dormitorium des Praios-Tempels bevorzugt, kam ihm dabei in den Sinn. Zählen ließ sich das kaum noch.
„Es ist mir eine besondere Ehre, es mit so erlauchter Gesellschaft zu teilen.“
Auricanius machte eine weitere kurze Pause, um den Gästen Gelegenheit zu geben, einige Schritte weit in die Halle einzutreten.
„Rohalion von Vinsalt?“, wandte er sich dann an den jungen Nandus-Geweihten. „Wie ist es denn zu diesem so symbolträchtigen Namen gekommen?“
Er wirkte aufrichtig interessiert.
Rahjada lächelte dem Novizen zu, als sie eintrat. „Schön, Euch zu sehen, Signor Nepolemo.“
Währenddessen war Rohalion fasziniert einige Schritte auf das Gemälde zugegangen. Überrascht wandte er sich dem Gastgeber zu, als dieser ihn ansprach.
„Den Namen Rohalion gab ich mir nach meiner Weihe selbst. Und ‚von Vinsalt‘ werde ich genannt, da ich keinen eigenen Familiennamen besitze“, erzählte er mit erschütternder Offenheit.
„Wer ist denn diese beeindruckende junge Dame auf dem Gemälde?“
Der junge Praios-Novize verbeugte sich unsicher vor der Esquiria, und schien dann erst abwägen zu müssen, was er zur Begrüßung erwidern wollte.
„Die Zwölfe zum Gruße“, ließ er sich schließlich entlocken.
„Diese junge Dame“, folgte Auricanius hingegen dem Nandus-Geweihten, „ist ein gutes halbes Jahrtausend älter als selbst der berühmte alte Weise, der euren Namen inspiriert zu haben scheint … und die Neugründung eurer Heimatstadt einst erst wieder erlaubte.“
Er machte eine kurze Pause, musterte den jungen Mann dabei.
„Ohne Rohal kein Vinsalt und wohl auch kein Rohalion von Vinsalt. Diese junge Dame hier hat in der Geschichte unseres Landes jedoch nicht weniger bedeutende Spuren hinterlassen, möchte ich behaupten. Sie war die erste, die nach Bosparans Fall gegen Tyrannei und für die Freiheit kämpfte. Auch wenn es sie nicht alt werden ließ. Lutisana war ihr Name … und das Haus der zweiten Vorkämpferin für die Freiheit unserer Heimat, Gräfin Tharindas, wie auch mein eigenes zählen sie stolz zu ihren … unseren Ahnen.“
Der Baron lächelte bei dieser Erklärung, obschon er sich offenbar zügeln musste, sie nicht zu sehr in die Lektion eines Lehrers seinem Schüler gegenüber abdriften zu lassen.
Währenddessen trat auch Praialissa zu den beiden.
„Seht euch vor, Grazioso“, warnte sie Rohalion wohl nur scherzhaft, „ihr habt in meinem Dienstherrn einen überaus bereitwilligen Dozenten über die gesamte Historie des Horasreichs vor euch.“
„Lutisana von Kullbach! Das ist ja unglaublich, dass sie Eure Urahnin ist“, rief Rohalion aufgeregt. Natürlich, jetzt erinnerte er sich wieder! Eine der wichtigsten Rondra-Heiligen. Wie hatte er sie nur nicht sofort erkannt? Zum Glück war sie keine Hesinde-Heilige, also war es verzeihbar, Rondra kam im Lehrplan seines Tempels ohnehin etwas zu kurz für seinen Geschmack, immerhin spielten die Ardariten eine nicht wegzudenkende Rolle im Horasreich.
„Dann sind die anderen Personen wahrscheinlich die Mitbegründer des Theaterordens. Ihr Schwert … das war doch auch heilig, eines von zwölf besonderen Schwertern. Sie sind alle nach Edelsteinen benannt, oder?“
Er strahlte wie ein Phexjünger, der im Casino gerade den Hauptgewinn abgeräumt hatte, stolz darauf, sich noch an solche Details zu erinnern.
„Ach, das ist doch etwas Gutes. Willig zu sein, Wissen weiterzugeben, ist eine der höchsten Tugenden des Nandus“, meinte er an die Reverenda gewandt.
Rahjada konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie fragte sich unwillkürlich, was zuerst nachlassen würde: Rohalions Wissensdurst oder Auricanius‘ Motivation, Wissen weiterzugeben. Beides hielt sie für unerschöpflich.
„Die Klingen der Theaterordensgründer werden in ihrer Gesamtheit auch 'Löwinnenschwerter' genannt“, griff Auricanius die Frage Rohalions auf. „Lutisana führte dabei die Smaragdlöwin, die vor ihr schon dem Heiligen Hlûthar gehört haben soll und sich heute im Besitz des Garether Heldenratsmitglieds Melcher Dragendot befindet. Sie ist leider kein Familienerbstück.“
Der Baron machte bei der letzten Bemerkung eine leicht verdrießliche Miene.
„Der Fokus bei der Betrachtung eines Heiligenlebens sollte jedoch ohnehin nicht bei den Gegenständen liegen. Es ist die Hand, die das Schwert führt, und der Verstand, der die Hand führt.“
Auricanius lächelte Rohalion dabei aufmunternd an, als wolle er einem Tadel die Schärfe nehmen.
„Die Löwinnenschwerter der Theaterordensgründer waren deshalb nur Werkzeuge ihres Wirkens. Entscheidender waren ihre Motive und ihr Hintergrund. Selbst der König von Aranien, Arkos I., Namenspatron des amtierenden Arkos II., war ja darunter, wie ihr sehen könnt.“
Der Praios-Geweihte lenkte den Blick Rohalions mit der ausgestreckten Hand auf eine von mehreren tulamidisch aussehenden Figuren neben Lutisana.
„Was den König eines fernen Landes bewegte, sich einem Schwurbund hier in unserer Heimat anzuschließen, über Jahre die Folgen von Bosparans Fall zu bekämpfen, sich in den Dienst eines für ihn fremden Volkes zu stellen, verdient darum vielleicht viel mehr Aufmerksamkeit. Und er ist nur einer von elf anderen, die Lutisana zur Seite standen.“
Auricanius schien nicht gewillt zu sein, diese Gelegenheit, einem willigen Schüler etwas lehrreiches aus der Historie beizubringen, einfach verstreichen zu lassen. Seinen beiden Delegierten, die ihn dabei beobachteten, zwinkerte er von Rohalion unbemerkt deshalb zu, als müsse er sie als Komplizen seines Tuns gewinnen.
Fasziniert betrachtete Rohalion das Wandgemälde.
„Ein aranischer König … Gibt es überlieferte Schriften zu seinen Beweggründen? Oh, Eure Familie besitzt doch sicher Schriften der Heiligen Lutisana selbst oder ihrer Zeitgenossen über sie?“
Der Gedanke begeisterte ihn.
„Bei so einem alten Haus gibt es sicherlich einen riesigen Wissensschatz … ein Archiv, eine Familienbibliothek? Eine Chronik über ein Jahrtausend hinweg wäre einfach unglaublich. Und ein Haus mit einer rondraheiligen Vorfahrin hat einen ganz anderen Schwerpunkt als zum Beispiel Magierakademien oder Hesinde-Tempel!“
Er wollte nicht direkt fragen, ob er dieses vermutete angesammelte Wissen einmal selbst sehen konnte, immerhin kannte er seinen Gastgeber erst seit ein paar Minuten, doch die Intention war auch so offensichtlich.
Rahjada biss sich auf die Lippe, um nicht loszulachen. Sie tauschte einen amüsierten Blick mit Praialissa.
Auricanius schmunzelte ob der Fragen und Vermutungen des jungen Nandus-Geweihten.
„Grazioso, die Heilige Lutisana lebte vor über tausend Götterlaufen, in der Zeit um Bosparans Fall. Die originalen Dokumente, die im ganzen Reich aus dieser Epoche überdauert haben, lassen sich wahrscheinlich an den Fingern zweier Hände abzählen. Und sichere Überlieferungen der Beweggründe historischer Persönlichkeiten, auch eines aranischen Königs, sind schon generell eine Seltenheit. Wer die Historie erforscht, ist darum oft gezwungen seine Schlüsse aus den überlieferten Handlungen zu ziehen. Auch deshalb ist die Frage, was Arkos I. bewog, Teil des theaterritterlichen Schwurbunds zu werden, überhaupt so spannend.“
Der Praios-Geweihte lächelte Rohalion einmal mehr aufmunternd an. Es war nicht sein Anliegen, den Jüngeren vorzuführen, sondern ihn vor allem zum eigenen Nachdenken anzuregen. Dass der Vinsalter ihn auf Chroniken und Bibliotheken ansprach, überraschte ihn dabei nicht, er war jedoch nicht gewillt, darauf umgehend einzugehen.
„Es ist eine Herausforderung, sich in seine Vorfahren hinein zu versetzen, ohne Frage. Die Umstände ihres Lebens waren schließlich ganz andere als die, unter denen man selbst aufgewachsen ist. Welche Werte und Nöte ihr Leben bestimmten, lässt sich oft nur erahnen. Dass aber die Tugenden der Götter einen überdauernden Charakter haben, dürfen wir wohl … müssen es vielleicht sogar … unterstellen. Ob es des Königs Tapferkeit, seine Ehre, der selbstlose Wunsch Schwächere zu beschützen oder mehr ein starkes Gerechtigkeitsempfinden war, das ihn antrieb, müssen wir dennoch interpretieren. Oder was meint ihr?“
Auricanius war ehrlich gespannt, wieweit sich der Begleiter Rahjadas von seinem offensichtlichen Wissensfokus zu einem philosophischeren Ansatz 'verführen zu lassen' bereit war.
„Von unserem jetzigen Standpunkt aus ist das wohl kaum zu beurteilen. Wie Ihr bereits angemerkt habt, ist es tausend Götterläufe her. Es wäre wohl ein reines Raten“, stellte Rohalion enttäuscht fest. Seine Neugier war nur noch mehr angefacht. Beinahe hätte er alle Höflichkeit vergessen und ganz dreist ‚Und, habt Ihr nun ein Familien-Archiv?‘, gefragt. Angespannt begann er, kaum merklich auf- und abzuwippen.
Geduld, Amaldo, Geduld. Es war die Stimme seiner Ziehmutter, die ihn dazu ermahnte, er konnte ihren belustigten Unterton heraushören, so oft hatte sie versucht, ihm diese Lektion beizubringen. Aber er war nicht mehr der kleine Novize Amaldo, er war jetzt der Geweihte Rohalion! Er würde ihr und sich selbst beweisen, dass er dazugelernt hatte und sich beherrschen konnte.
Nachdem sie die höfliche Mindestzeit abgewartet hatte, in der Rohalion noch etwas auf Auricanius‘ Frage hätte antworten können, schaltete sich Rahjada ein.
„Ich bin sicher, es ging ihm um die Verteidigung und Auslebung der Tugenden der Zwölfe im Allgemeinen. Was denkt Ihr?“
Die Betonung lag auf Tugenden. Sie lächelte schief und hoffte, dass zumindest Auricanius verstand, worauf sie hinauswollte. In der Eingangshalle herumzustehen wurde allmählich zermürbend, zudem sich ihre Füße beschwerten, nach der morgendlichen Wanderung auch nur eine Minute länger stehen zu müssen als nötig.
„Das ist eine mögliche Interpretation“, griff Auricanius Rahjadas Antwort auf, „die sich jedenfalls mit den erhaltenen Quellen und Überlieferungen zu ihm decken würde.“
Dass immerhin seine Delegierte seinen eigenen Schwenk zu den Tugenden als allgemein gültigen, möglichen Motiven herausgehört hatte, erfüllte ihn mit Freude. Rohalions Neugier schien dies jedoch noch nicht befriedigen zu können.
„Dem aranischen König ist neben Lutisana und bemerkenswerterweise zwei weiteren tulamidischen Theaterordensgründern, Salim al'Thona und Pakhizal al'Marfun, in der Grabkaverne unter der Tafelbergfestung, in der die Gebeine meiner Urahnin ruhen, schon zur Theaterritterzeit etwa ein Schrein errichtet worden, der durch seine Gestaltung, gerade im Vergleich mit den anderen, weitere Hinweise gibt. Es muss insofern kein reines Raten sein, wenn man sich Gedanken über die Motive lange verstorbener Helden und Heiliger macht.“
Der letzte Satz war natürlich wieder primär an Rohalion gerichtet, den der Praios-Geweihte mit dem Verweis auf weitere Quellen auch locken wollte, diesen selbst mal nachzugehen.
„In Urbet pflegt mein Haus schon seit Jahrhunderten auch eine sehr originalgetreue, regelmäßig ergänzte Abschrift des heiligen Rondrariums, das abseits von Quellen der sogenannten Mondsilbernen Zeit in Aranien selbst die wahrscheinlich wahrste und umfangreichste Überlieferung … nicht nur, aber auch … zum Leben und Wirken Arkos' enthält. An diesem Exemplar habe ich selbst wie jedes andere Mitglied meines Hauses einst meine Bosparano-Kenntnisse unter Beweis ...“
Das Läuten der Türglocke unterbrach ihn kurz.
„... stellen müssen“, vervollständigte der Baron den Satz noch, ehe er sich mit einem entschuldigenden Lächeln Rohalion gegenüber von diesem abwandte.
Auf ein Zeichen Auricanius' öffneten die noch immer in der Eingangshalle stehenden Bediensteten das Portal erneut. Vor diesem standen zwei weitere Gäste, der ehemalige Kommilitone Rahjadas und Schüler Auricanius', Abelmir Jaraldo nämlich und eine wohl etwa gleichaltrige Dame in einem aufwendigen, ihre Reize betonenden Kleid.
„Praios zum Gruße, Monsignore Urbet“, begrüßte Abelmir zunächst seinen Gastgeber und verneigte sich zusammen mit seiner Begleitung dabei formvollendet, „es ist mir eine Ehre, eurer Einladung nachgekommen zu sein. Wenn ich vorstellen darf: Signora Elissa de Monesta, eine Vinsalterin wie ich und einst Studiosa der Academia Horasiana.“
Auricanius hieß sie willkommen, reichte dabei der ihm neuen Begleiterin zunächst die Hand, die die Geste erneut mit formvollendeter Reverenz beantwortete.
Abelmirs Blick fiel währenddessen bereits auf Rahjada, der er zulächelte: „Esquiria Solivino.“