Briefspiel:Plötzlich Delegierte/Treffen in Vinsalt IV
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Treffen in Vinsalt - Teil IV: Eine missglückte Überraschung?
„So machen wir es“, nahm Auricanius den letzten Vorschlag seiner beiden Delegierten zum Intervall, in dem ihm Berichte ins Mittelreich hinterhergeschickt werden sollten, an.
Ein volles Stundenglas war bestimmt vergangen, seit sie den Tempel verlassen hatten. Ihr Weg hatte sie an der Konventshalle und der Rechtsschule vorbei zunächst zum rückwärtigen Tempelgarten des Praios-Kults geführt, wo sie eine ganze Weile flanierten, bevor sie in einem Pavillon eine – viel zu kurze – Pause einlegten. Als benötigte er fürs Gespräch über die politischen Verwicklungen der Hauptstadt vitalisierende Bewegung, hatte Auricanius dann den Vorschlag gemacht, auch dem zweiten parkartigen Tempelgarten, hinter dem Rondra-Tempel, noch einen Besuch abzustatten. Und natürlich hatte es keiner gewagt, ihm zu widersprechen, selbst als die Beine schon schwer zu werden drohten. Immerhin gab der ausgiebige Ausflug über den Tempelberg dem am politischen Gespräch weitgehend unbeteiligten Novizen immer wieder etwas neues zu sehen.
„Nepolemo, magst du den Kutschern Bescheid geben, dass sie zum Rondra-Tempel kommen“, beauftragte der Baron seinen Neffen. Der schien sich kurz orientieren zu müssen, tat dann aber, wie ihm geheißen.
„Poldoron besucht seine Schwester“, erläuterte Auricanius seinen beiden Delegierten. „Die ist auch Novizin, sogar im selben Alter wie unser angehender Turaniter, dient aber der Göttlichen Leuin hier in Vinsalt.“
Der Praios-Geweihte erklärte dies vor allem für den Fall, dass die beiden dessen noch nicht gewahr waren, auch wenn es vielleicht unwahrscheinlich war.
„Wenn ihr mich begleiten wollt, verrate ich euch auch, warum ich euch gebeten habe, den Abend freizuhalten.“
Damit ging die Wanderung weiter …
„Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich habe Curriculum Vitae dabei, das Spiel der Tugenden, weil ich um eine praktische Vorführung gebeten wurde. Und ich wüsste euch beide dabei sehr gerne an meiner Seite. Vor allem dich, Rahjada, weil ich deinen Anteil an der Entwicklung des Spiels schon angepriesen habe.“
Er sah sie wohl in Erwartung einer Reaktion an.
„Oh, wirklich? Vielen Dank, Monsignor.“
Rahjada rang sich ein strahlendes Lächeln ab und versuchte, ihre schmerzenden Füße zu ignorieren. War es wirklich nötig gewesen, noch durch diesen Rondrapark zu gehen? Sie hatte gehofft, dass die Wanderung zu ihrem Ende gekommen war, als der Baron angehalten hatte, um seinen Neffen loszuschicken …
„Das wäre doch nicht nötig gewesen. Meine Vorschläge waren gar nicht so bedeutend.“
Doch Auricanius sah ihr an der Nasenspitze an, dass sie sich geschmeichelt fühlte.
„Wem wollt Ihr das Spiel der Tugenden denn vorführen?“
Ein Freund des Barons? Vielleicht auch einer der zahlreichen in Vinsalt lebenden Comtos und Comtessas, deren Kindern sie Bosparano beibrachte? Rahjada sah ihn gespannt an.
„Doch, doch, das waren sie“, reagierte Auricanius zunächst auf Rahjadas Einschätzung ihres eigenen Anteils an der Entwicklung des Spiels. „Und ich finde, das dürfen Interessierte auch wissen.“
Dass ihr diese Hervorhebung schmeichelte, sah er ihr an, und er bestärkte dieses Gefühl auch gerne noch einmal.
„Vorführen möchte ich das Spiel heute abend zwei Gästen“, wandte er sich dann der Frage zu. „Einer hatte gewissermaßen selbst Anteil an der Entwicklung, jedoch nur in einer sehr frühen Phase, weil er noch vor dir, Rahjada, seinen Abschluss an der Universität machte … und wir es in all den Götterläufen seither nicht geschafft haben, mit ihm eine Partie des fertigen Spiels auf die Beine zu stellen.“
Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr.
„Vielleicht erinnerst du dich noch an ihn, ich meine Abelmir Jaraldo, den Großneffen Reshemins, der Direktorin der Oper.“
Eine weitere kurze Pause schien vor allem Rahjada Gelegenheit geben zu sollen, in ihren Erinnerungen zu wühlen.
„Der zweite Gast ist hingegen extra aus dem Silbertal mit angereist. Es ist ein Hochgeweihter, mit dem ich kürzlich vor allem wegen seiner Tochter in näheren Kontakt kam.“
Auricanius sah beim letzten Satz – zufällig oder mit Absicht? – Praialissa an, deren Vater Praiovan wie sie ein Geweihter des Götterfürsten im Turaniterorden war, obschon kein Hochgeweihter, so sich dies nicht sehr sehr kürzlich geändert haben sollte …
‚Natürlich erinnere ich mich‘, dachte sie erfreut. Tatsächlich hatte Abelmir Jaraldo Rahjada zu ihrer ersten Vinsalter Oper eingeladen, sobald er erfahren hatte, dass sie jetzt auch hier lebte. Es war ein netter Abend gewesen, auf den unregelmäßige Treffen in Teestuben folgten. Nach einigem Hin und Her waren sie sich beide einig darüber geworden, nicht mehr als Freundschaft voneinander zu wollen. Ihre letzte Begegnung war schon mehrere Monde her.
Als Auricanius von dem zweiten Gast erzählte, wechselte ihr Gesichtsausdruck von überrascht über ungläubig zu fassungslos. Sie sah verwirrt zu Praialissa und dann wieder zu Auricanius.
„Ihr … Ihr meint meinen Vater?“
Sie war nicht erfreut, das sah und hörte man ihr an. Irgendwie schien sie das jetzt auch zu realisieren und setzte mehr schlecht als recht ein Lächeln auf.
„Das ist eine… Überraschung.“
Ihre Gedanken rasten. Rahjalin kam sie besuchen, völlig unangekündigt? War das ein besonders erbärmlicher Versuch, ihre Vergebung zu erlangen? Vergebung war stets alles gewesen, was er von ihr wollte, doch sie würde sie ihm nicht geben. Er hatte sie mit Geschenken überhäuft, ihr alles gegeben, was sie sich wünschte, doch sie wollte all die Zeit bloß ihre Mutter zurückhaben.
‚Es ist seine Schuld, seine Schuld, dass sie tot ist.‘ An diesem Glauben hielt Rahjada fest, seit sie verstanden hatte, warum sie nicht mit ihren beiden Eltern aufgewachsen war. Keine Macht Deres konnte ihre Mutter zurückholen, deswegen würde auch keine Macht Deres sie dazu bewegen, ihm zu verzeihen. Sie wollte sein ach so tiefes Bedauern gar nicht erst hören.
Eine Ausrede, sie brauchte eine Ausrede, warum sie doch nicht zu der Abendgesellschaft ihres Dienstherrn kommen konnte… und dazu noch eine gute, sonst riskierte sie einen Affront und damit ihre Stellung als Delegierte.
Als Rahjada lächelte, tat Auricanius es nicht. Ihre Reaktion davor hatte ihm genug verraten. Obschon sie es schnell zu überspielen versuchte, hatte die Erkenntnis, wer sein Gast an diesem Abend sein sollte, sie härter getroffen, als er im Grunde seit seinem Treffen mit Rahjalin in der Villa Ricarda gehofft hatte. Tatsächlich rasten seine Gedanken ebenso, wenn auch von einem ganz anderen Standpunkt aus.
Praialissa musste Rahjadas Reaktion auf die Offenbarung der Gäste auch mitbekommen haben, denn sie sah Auricanius ernst an – und zugleich die Sorge in seinem Blick. Sie schien auf ein Zeichen von ihm zu warten, das er ihr auch gab.
„Monsignore, ich werde mal nach eurem Neffen schauen“, gab sie daraufhin bekannt und entfernte sich, um ihm die Gelegenheit zum Zwiegespräch mit der jüngeren Esquiria zu geben.
Auricanius sah ihr einige Augenblicke hinterher, bevor er wieder Rahjada ansah, mit einem Blick, der wohl am ehesten 'Entschuldige' sagen sollte.
„Eine Überraschung, die wohl missglückt ist“, griff er endlich ihre letzten Worte auf. „Rahjada, ich will nicht lügen: Ich habe geahnt, dass die Anwesenheit deines Vaters dich in innere Konflikte bringen könnte. Wie groß diese sind, hat aber erst deine erste, unverstellte Reaktion offenbart.“
Dabei zwang er sich selbst zu einem Lächeln, das aber wohl allein der von ihm selbst – auch ihr gegenüber schon – gelehrten Lektion galt, dass die erste Reaktion die aufrichtige war und die, die sich am schwersten unterdrücken oder verstellen ließ.
„Ich habe diese Wunde von dir falsch eingeschätzt und muss mich für mein Verhalten entschuldigen. Denn wisse: Auch wenn ich im vergangenen Götterlauf mehrere deiner Verwandten näher kennenlernen durfte … deine Kusine Doriana, die meiner Nichte, der anderen Rahjada, gar das Leben rettete, deinen Vetter Rahjesco bei der Kaiserjagd oder jetzt zuletzt deinen überaus reuigen Vater … ist mir keiner von denen so wichtig wie du. Auch der Großneffe Reshemins nicht. Ich sage alles ab, wenn es sein muss.“
Er sah sie dabei fragend an … und aufrichtig, denn er taktierte hier nicht. Wenn sie entscheiden sollte, dass der geplante Abend ohne sie stattfinden sollte, würde er das akzeptieren – ihn aber dann bedenkenlos auch ganz absagen.
Rahjada atmete tief durch.
„Monsignor … ich …“ Ihre Hand zitterte leicht, deswegen hielt sie sie mit der anderen Hand fest. „Ich bin gerührt.“
Sie biss sich auf die Unterlippe. Seine aufrichtige Fürsorge machte er ihr es nur schwieriger, ihn zu enttäuschen.
„Bitte sagt die Gesellschaft nicht wegen mir ab.“
Eine lange Stille folgte, bevor sie zögernd weitersprach.
„Danke, dass Ihr mich nicht bewertet aufgrund meines Verhaltens. Ich weiß nicht, was er Euch erzählt hat. Es ist so lange her, aber … aber manchmal habe ich das Gefühl, es wäre erst gestern gewesen. Das Gespräch mit Eurem Neffen hat mich zum Nachdenken gebracht. Ich beneide ihn darum, Frieden mit seiner Vergangenheit gemacht zu haben. Irgendwie dachte ich, Methumis und Vinsalt würden mich ablenken, das haben sie auch, und es war wirklich die schönste Zeit meines Lebens, doch dann gibt es wieder Momente, in denen ich mich umso heftiger erinnere.“
Unsicher, ob sie zu viel erzählt hatte, schwieg sie wieder. Von den Alpträumen würde sie ihm nicht erzählen, noch nicht. Sie waren viel weniger geworden, seit ihr Vater den Schleier der Träume für sie eingesetzt hatte und dann über die Jahre fast verschwunden, aber eben nur fast. Und wenn sie manchmal weinend in ihrem Schlafzimmer aufwachte, war da niemand mehr, um ihre Tränen wegzuwischen, keine Traviane, nicht einmal ihr Vater und am allerwenigsten ihre Mutter.
Auricanius hörte seiner Delegierten sehr genau zu. Ihre Beweggründe schienen ihm schon ein Stück weit klarer zu werden, auch wenn sicherlich noch viel unausgesprochen blieb. Schweigen würde sie – beide – hier aber nicht weiterbringen, war er sich sicher.
So zwang er sich zu einem weiteren kurzen Lächeln, als er sagte: „Du sprichst von deiner Zeit in Vinsalt, als sei sie bereits abgeschlossen. Ich hoffe … für Praialissa und mich selbst … dass das nicht so ist.“
Dann wurde er wieder ernst: „Es heißt, dass Trauer die Emotion ist, die Liebe überdauern lässt. Wenn du dich erinnerst – ich nehme an, an deine Mutter – lässt du sie vor allem nicht in Vergessenheit geraten. Der Schmerz ist dabei das, was deine Mutter dir sicher am allerwenigsten wünschen würde. Was dir überhaupt niemand wünscht. Ablenkung aber hilft immer nur vorübergehend. Man könnte sagen, sie ist nur eine Flucht … vor dem Erinnern. Ich glaube jedoch nicht, dass du dich nicht mehr erinnern möchtest.“
Er machte eine kurze Pause, wohl auch um seine Gedanken zu sortieren. Dass er wieder sehr analytisch redete, war ihm selbst aufgefallen.
„Rahjada, was ich dir jetzt erzähle, ist nur für deine Ohren bestimmt. Ich glaube, dass ich mit dir fühlen kann, weil es auch in meinem Leben einmal eine Frau gab, an die ich mich lange nur noch unter Schmerzen erinnern konnte. Dabei lebt sie noch. Aber sie hat Sachen getan, die ich ihr nur sehr, sehr schwer verzeihen konnte. Ich habe sie zeitweise nicht mehr wiedererkannt, nicht geglaubt, dass sie dieselbe Person sein kann, die ich einst mehr als jede andere verehrte. Das Gefühl, sie verloren zu haben, hat mich viele Götterläufe verfolgt. Mir einzugestehen, dass es die Person, die ich einst so liebte, nicht mehr gibt, war ungeheuer schwierig. Und ich erinnere mich noch heute an die schönsten Momente mit ihr. Ohne sie immer noch zu lieben, denn das kann ich nicht mehr, nicht wie früher jedenfalls …“
Er stockte, sog einmal tief Luft ein und wischte sich dann mit einem für ihn fast schüchternen Lächeln eine einzelne Träne aus dem Auge.
„Nein, nein, ich würde sehr gerne hierbleiben“, versicherte Rahjada. Wo sollte sie auch sonst hin?
Mit angehaltenem Atem hörte sie Auricanius zu, als er dieses intime Geheimnis mit ihr teilte, ihre Augen wurden dabei immer größer. Tief bestürzt realisierte sie, dass er nicht einmal versucht hatte, seine Träne zu verbergen.
„Das tut mir so Leid.“
Sie hob zögernd die Hand in seine Richtung, wie um ihn an der Schulter zu berühren, und ließ sie schnell wieder sinken. War sie jetzt völlig verrückt geworden? Das war ihr Lehrer, schlimmer noch: ihr Dienstherr.
„Ihr habt Recht, ich will mich erinnern, am liebsten ganz deutlich. Aber manche Details ihres Gesichts verblassen schon und ich fürchte mich davor, dass ich eines Tages ganz vergessen habe, wie sie aussah oder wie ihr Lachen klang.“
Sie schluckte schwer. Doch Auricanius war ein guter Zuhörer und das brachte sie irgendwie dazu, fortzufahren.
„Es stört mich auch, dass mein Vater sich wahrscheinlich besser an sie erinnert als ich, nur weil ich damals noch so jung war. Obwohl er sie nicht so sehr geliebt hat. Sonst hätte er sie geheiratet oder wenigstens mit nach Urbasi genommen und … und alles wäre gut geworden.“
Rahjadas Stimme brach und sie sah aus, als wäre sie kurz vor einem Zusammenbruch.
Auricanius' Gedanken rasten wieder. Er war sich nicht sicher, was er als nächstes antworten sollte. Er meinte aber, dass Rahjada ganz leicht, kaum spürbar am zittern war. Deshalb griff er nach ihren Händen, hielt beide fest, um ihr ein wenig Halt zu geben.
„Ich glaube“, begann er dann, „dass dein Name Ausdruck der Liebe ist, die deine Mutter für dich … aber auch für deinen Vater empfand. Die Freudvolle unter den Zwölfen wurde sicher nicht zufällig als Namensbestandteil gewählt. Rahja und ihre elf Geschwister mögen uns manchmal sehr fern erscheinen und wir mögen zaudern und hadern mit dem Lauf der Dinge, den sie gefügt zu haben scheinen. Das sollte uns jedoch nicht grundsätzlich am Ratschluss der Götter zweifeln lassen. Deine Mutter, so meine ich es auch aus Rahjalins Worten herausgehört zu haben, hat von Rahja wohl eine besondere Gabe erhalten: die innige Liebe, die vielen anderen ihr ganzes Leben lang versagt bleibt. Zu dir, aber auch zu und von deinem Vater aus. Keinen Moment zweifle ich daran, dass er anders empfindet, selbst wenn er damals nicht den Weg des Traviabunds beschritt, der den Rahja so besonders verschriebenen manches Mal im Feuer der Liebe, die sie empfinden, unnötig und überflüssig erscheint. Wenn er Satinavs Schiff, den Fluss der Zeit umkehren könnte, würde er dies heute sicherlich tun. So reuevoll habe ich ihn erlebt. Aber dieses Kunststück ist wohl nicht einmal den Göttern vergönnt.“
Er machte eine kurze Pause.
„Du warst sehr jung, als dir … euch beiden … deine Mutter genommen wurde. Du sagst selbst, dass du fürchtest, dass die Erinnerung verblassen könnte. Und dass du glaubst, dass dein Vater viele andere Erinnerungen an sie hat, die er offenbar noch nicht mit dir geteilt hat. Doch könnte der Grund dafür nicht sein, dass sie vor allem mit seiner Liebe zu ihr zu tun haben, die so heiß gebrannt haben muss? Welche Eltern erzählen ihren Kindern, vor allem wenn sie noch so klein sind, aber solche Details? Nun bist du kein Kind mehr, Rahjada, und magst erst jetzt bereit sein, von der Gänze der Erinnerungen deines Vaters an deine Mutter zu hören. Aber dafür müsstest du ihm überhaupt eine Gelegenheit geben.“
Der Praios-Geweihte sah sie dabei fragend an, jedoch nicht drängend. Er war sich nicht sicher, wie hilfreich seine Worte waren, hoffte aber natürlich, dass sie wenigstens zum Nachdenken anregten.
Auricanius nahm ihre Hände und Rahjada erstarrte zuerst völlig überrumpelt. Nach und nach jedoch half ihr sein fester Händedruck, sich zu beruhigen.
„Ja, ich glaube, ich würde gerne mit ihm über Mutter reden. Vielleicht habt Ihr Recht, was seine Liebe zu ihr betrifft …“
Überrascht von ihrer eigenen Feststellung stutzte sie.
„Lutisana war ihr Name, wie Eure heilige Vorfahrin. Wir dürfen sie nicht vergessen, mein Vater und ich.“
Sie klang fest entschlossen. Für ein paar Wimpernschläge ließ sie ihren Blick nachdenklich durch die Gartenanlagen wandern.
„In einem seiner Briefe hat er einmal erwähnt, dass er einen anderen Rahjageweihten in Belhanka kennengelernt hat, der Portraitzeichner ist.“
Es wirkte mehr so, als würde sie den Teil eines Gedankengangs laut aussprechen, als wirklich mit Auricanius zu reden.
Ihre Augen glitzerten, als sie wieder seinen Blick suchte. „Monsignor, Ihr wart bisher immer ehrlich zu mir und habt meine Fragen stets nach Eurer besten Einschätzung beantwortet. Ich zweifle nicht daran, dass Ihr dies auch in Zukunft im Sinne Eures Gottes tun werdet. Darf ich Euch eine Frage stellen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Denkt Ihr, mein Vater hätte mich jemals anerkannt, wenn meine Mutter nicht gestorben wäre?“
Würden sie jetzt überhaupt hier so stehen, wenn nicht? Sie hätte es sich ohne die Unterstützung der Solivino niemals leisten können, in Methumis zu studieren, hätte Auricanius niemals kennengelernt, wäre niemals in den Genuss gekommen, eine eigene Hausangestellte zu haben oder mit ‚Signora‘ angesprochen zu werden. Mit welchem Blick würden die meisten ihrer heutigen besten Freunde das Mädchen mustern, das sie einmal war? War sie damals in ihren Augen überhaupt einen Blick wert?
Der Praios-Geweihte schien ob der Frage seiner Delegierten zunächst überrascht zu sein.
„Das weiß ich nicht“, antwortete er dann aber ernst. „Er sprach davon, dass er es im Nachhinein gerne sofort getan hätte, bei deiner Geburt. Aber da spricht natürlich ein gerade durch den Tod deiner Mutter veränderter Mann aus ihm.“
Auricanius entschied sich, in diesem Fall nichts zu beschönigen.
„Was er ohne diesen Schicksalsschlag getan hätte, vermag ich nicht zu sagen.“
Er griff die Hände Rahjadas dabei nochmal fest, bevor er sie – in der Hoffnung, sie durch seine ehrliche Antwort nicht erneut erschüttert zu haben – freigab.
„Lutisana hieß sie also“, lächelte er dann, „nun das ist natürlich ein fast so schöner Name wie Rahjada. Willst du mir vielleicht mehr von ihr erzählen, damit sie nicht nur in deinen, sondern auch meinen Erinnerungen, wenn auch nur aus deinen Schilderungen, fortlebt?“
Rahjada nickte langsam. „Es ehrt Euch, dass Ihr so nobel von meinem Vater denkt, dass Ihr Euch dessen nicht sicher seid. Ich bin mir sicher, dass er mich nie anerkannt hätte. Vielleicht hat er sich aber wirklich verändert, das könnt Ihr besser beurteilen, weil Ihr ihn schon vorher kanntet.“
Wenn sie Rahjalin heute Abend sah, würde sie ihn geradeheraus fragen, ob sie Halbgeschwister hatte, die er nie anerkannte, nahm sie sich vor. Je nach dem, wie ehrlich er antwortete, würde sich Auricanius‘ Theorie als falsch oder richtig erweisen.
„Meine Mutter … ihr Haar war etwas heller als meins und ihre Augen blau wie ein tiefer, klarer See. Sie war immer sehr fröhlich, lachte sehr viel und liebte bunte Farben, Volksfeste und den Frühling. Dann liebte sie es, Blumenkränze in mein Haar zu flechten. Sie hat meine Blumenkränze in ihrem Haar immer gelobt, auch wenn sie wahrscheinlich schrecklich aussahen.“
Sie lachte leise auf, gleichzeitig verschwamm ihre Sicht vor Tränen. Langsam flossen sie ihre Wange herab.
„Sie war sehr gläubig, wir beteten jeden Morgen, und sie sagte mir immer, dass die Zwölfe mich beschützen würden. Besonders die Heitere, allein schon wegen meines Namens. Auch an dem Tag … als es passierte … sagte sie mir das. Als Kind dachte ich damals, dass es meine Schuld sei, weil sie allen Schutz, den die Götter ihr gegeben hatten, auf mich übertragen hat und ich wünschte mir, dass die Götter mich anstatt ihrer von Dere genommen hätten.“
Bis Traviane ihr erklären musste, warum sie jetzt erst eine Solivino war und nicht von Geburt an, hatte sie sich selbst die Schuld gegeben. Danach hatte sie die Schuld auf Rahjalin geschoben. Wütend auf jemanden zu sein, war ihr als einziger Weg erschienen, mit der Trauer fertigzuwerden … erschien ihr bis heute so. Aber Auricanius war einen anderen Weg gegangen, einen göttergefälligen. Indem er ihr davon erzählte, öffnete er diesen Weg auch für sie. Es fehlte nur ein winziger Schritt, um ihren jetzigen Pfad zu verlassen. Nur ein winziger … und doch war sie sich nicht sicher, ob sie das schaffen würde. Mit dem Ärmel ihres Kleides wischte sie die Tränen fort.
„Diesen Handel, dass die Götter dich statt ihr so früh zu sich nehmen, hätte deine Mutter niemals gewollt … und ich auch nicht, Rahjada. Ich bin mir sicher, dass sie sehr gerne jeden Tag wartet, der dir auf dieser Welt vergönnt ist, bevor ihr euch wiederseht!“
Auricanius hatte keinen Zweifel daran, dass den wahrhaft Gläubigen die zwölfgöttlichen Paradiese offenstanden. Rahjadas Schilderung nach war ihre Mutter ein solcher Mensch – und auch Rahjada selbst schien es trotz ihrer Schicksalsschläge bestimmt zu sein, ein götterfürchtiges Leben führen zu können.
„Deine Erinnerungen an sie scheinen immerhin noch nicht verblasst zu sein, so bildlich wie du sie mir geschildert hast.“
Er lächelte sie aufmunternd an.
„Ach ja, eins hab ich dir und auch Praialissa noch gar nicht gesagt, fällt mir gerade ein: Sehr gerne dürft ihr natürlich auch Begleitung mitbringen heute abend. Vielleicht gibt es ja jemanden, den du gerne an deiner Seite wüsstest, sei es ein Spielneuling oder nicht. Am Platz wird es uns nicht mangeln, weil ich schon vor ein paar Tagen Bedienstete entsandt habe, die das jetzt ziemlich genau zwei Götterläufe weitgehend ungenutzte Haus meiner Familie in Alt-Bosparan herrichten sollten. Das kann sich beileibe nicht mit dem Firdayon-Palast messen oder der Tempelhalle des Götterfürsten, aber eine – gerne auch größere – Spielgesellschaft hat da allemal mehr als genug Raum sich zu entfalten.“
„Das Angebot nehme ich gerne an.“
Tatsächlich hatte sie schon jemanden im Sinn. Der frischgebackene Nandus-Geweihten Rohalion, den sie vor zwei Jahren als Novizen in der Halle des Verborgenen Wissens unter dem Namen Amaldo kennengelernt hatte, würde sich bestimmt freuen, sie begleiten zu dürfen. Mit seiner lebensfrohen und völlig offenen Art war er geradezu ansteckend und würde daher bei dem bevorstehenden Gespräch mit Rahjalin eine ideale Begleitung abgeben. Sie brauchte alle Offenheit, die sie finden konnte.
Rahjada lächelte Auricanius dankbar an. Es tat gut, zu lächeln, auch wenn ihre nassen Wangen gerade erst zu trocknen begonnen.
„Danke, dass Ihr Eure kostbare Zeit darauf verwendet habt, mir zuzuhören, Monsignor. Und dass Ihr mir mit Rat zur Seite steht. Das bedeutet mir viel.“
Ihr Blick fiel auf die arme Praialissa, die etwas abseits wartete.
„Wollen wir die Reverenda nicht länger warten lassen.“