Archiv:Abschied von Cedor Khelianada (BB 17)

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Auge-grau.png Quelle: Bosparanisches Blatt Nr. 17, Seiten 13-16
Aventurisches Datum: Tage des Namenlosen 1021 BF



Abschied von Cedor Khelianada


Zwölfmal klang der Gong. Letzte Mitternacht des Jahres, Anbruch der Tage des Namenlosen. Die von Phex und Efferd gesegnete Stadt fand keinen Schlaf. Auf der jahrtausendealten Reichsstraße des Seneb-Horas drängte sich eine dichte Menschenmasse. Vor dem Vinsalter Tor war eine Ehrenformation erzherzöglicher Reiter angetreten. Schwarz, Weiß und Rot reihten sich Frauen und Männer im rußigen Rot rauchender Fackeln. Tiefes Schweigen hatte die Menge ergriffen, wie in Vorahnung geschichtlicher Ereignisse.

Der Kolonel schrie, als ob er stürbe: "Präsentiert! Rechts schaut! ..." Die Garde präsentierte mit einem Ruck das Gewehr. Der Kolonel wendete und erstarrte salutierend zur Salzsäule. Einige Schlachtrösser tänzelten leicht aus der Reihe und schnaubten in die angespannte Stille. Der Kolonel ritt in steifer Haltung bis drei Schritt auf den Sarg zu und salutierte mit dem blanken Säbel. "Don General-Kapitan! Kolonel von Ravendâl meldet die 1. Schwadron der Chababischen Kavallerie zur Letzten Ehre angetreten!" Er salutierte noch einmal und griff sich ans Herz.

Prinz Timor hatte seine berüchtigten Nachtempfänge abgesagt. Doch das Seufzen der Lustbuben und Freudenmädchen galt nicht versäumter Wollust. Sie waren unter denen, die den Leichnam auf dem Horasplatz begrüßten, der einmal Phrenosplatz geheißen hatte. Die Salæ Magnificæ des Chababischen Palastes gleißten in taghellem Kerzenschein. Das aus allen Teilen des Wiedergeborenen Reiches zusammengerufene Haus Oikaldiki scharte sich um seine Madonna. Lutisana war wie eine Rose, die im Frühling grimmer Frost getroffen hatte. Bleich und schön: eine junge Witwe und inmitten aller allein.

Sein Gesicht war bleich. Die stählernen Ringe des Panzerhemdes glitzerten blutig im Feuerschein. Ein kalter Glanz lag auf dem Metall, wie Raureif an einem herbstlichen Morgen. Der Graf war bis zur Hüfte mit einem schwarzen Tuch bedeckt, das lang zu beiden Seiten herabfiel. Die schwarze Tunika aus gewalkter Wolle, rot und grün in zyklopäischen Mustern bestickt, hing in Fetzen um den geschundenen Leib.

Cedor und Lutisana. In diesen Armen gelegen, diesen Mund süße Torheiten flüstern hören, in diesen Augen, jetzt gebrochen, sich verloren. Lange sah Lutisana auf die hingestreckte Gestalt, den Körper ihres Geliebten. Auf seine Wunden. Sie kniete nieder und küßte die erkalteten Lippen. Wie eine Woge überschwemmte sie das Weh. Da griff Lutisana mit großer, feierlicher Gebärde nach dem Schleier und verhüllte das Haupt.


Der Leichnam lag öffentlich aufgebahrt. Er blieb in der Sankt-Sulvo-Sakrale, von Cedors Ahnen gestiftet. Seit dem Fall des Vaters war ihm der Palast verschlossen, wofern des Prinzen Gnade nicht Gastrecht gewährte. Zum ersten Mal stand Rahjas Tempel an Tagen ohne Namen offen. Viel Volk betrat zum ersten Mal ein Haus der Schönen Göttin. Der gewohnte Kult stand still.

Cedor schien im Schlaf zu liegen, auf blühenden Adlerpflock, goldene Rosen und weiße Schwertlilien gebettet. Die Schönheit der Jugend mischte sich mit der Kraft seiner Jahre und der Würde hohen Alters. Er trug eine lange, ungebleichte Tunika aus güldenländischer Raupenseide, die mit kleinen roten Vögeln bestickt war. Arme und Beine verbargen die Wunden nicht, die vor Monatsfrist geschlagen worden, doch der Leib schien unberührt von Fäulnis. Auf seinem Antlitz lag Frieden.

Pilgerndes Volk nahm Abschied von seinem Heros. Einer nach der anderen zogen sie an dem schwarz verhängten Katafalk vorbei. Scheu nahten sie dem Leichnam, die nackten Füße mit ihren Lippen zu berühren. Lediglich das eine Totenhemd bekleidete den Leichnam in all seiner Verletzlichkeit. Die göttliche Stute Trista schien den Hals zu ihm hinab zu beugen. Ehrfürchtige Stille füllte den Raum, in dem sonst das Keuchen der Wollust ertönte.

Priester der Zwölfgötter beteten an der Bahre ohne Unterlaß, Tag und Nacht. Sie unterbrachen ihre Fürbitten nicht, als von dem schlafenden Antlitz die Totenmaske abgenommen wurde. Den Priestern zur Seite standen Trabantengarden als Totenwache, das entblößte Schwert in der Faust, ohne Unterlaß, Tag und Nacht.


Eine lange Reihe schwarz gekleideter Granden schritt durch die Salæ Magnificæ. In der Sala Alverana erwartete Lutisana in düsterer Pracht, schwarzem Schleier und Silberspitze, die protokollarischen Bekundungen des Beileids. Alle großen Familien des Wiedergeborenen Reiches hatten Vertreter entsandt. Visitenkarten mit dem Vermerk p.c. (pro condolare) wurden feierlich verlesen. Nicht wenige Landsleute Lutisanas trugen die alte Gräfin-Tharinda-Medaille zur Schau. Die Dankesworte der Witwe waren reinste Rhetorik.

Sie riefen: "Cedor!" - "Cedor!" - und nochmals: "Cedor!" Er gab keine Antwort.
Sie hielten einen Spiegel vor den Mund. Das silberne Rund blieb blank.
Sie horchten nach dem Schlag des Herzens. Es schlug nicht mehr.
Sie sprachen: "Don Cedor ay Oikaldiki ist tot. Er ist in Wahrheit tot."

Protokollbeamte stellten einen weißen Tisch von Marmelstein in die Mitte der Sala. Auf schwarzen Kissen präsentierten sie das Große Siegel des Trodinars und einen kleinen Hammer. Bosserossi ergriff das Siegel und hielt es hoch empor. Rundum sich wendend wies er es der Curia. Dann legte er es nieder. Der alte Truchseß Rhodeon ergriff das Hämmerchen und tat desgleichen. Lutisana trat heran, nahm den Hammer und zerbrach das Siegel mit einem harten Schlag.

Glosende Glut war in der Schale gehäuft. Jodok der Page sank auf die Knie und präsentierte eine aufgeschlagene Kassette. Dieser entnahm Lutisana, eine nach der anderen, Visitenkarten mit der knappen Aufschrift "Cedor Graf Khelianada" und verbrannte sie.

Bedachtsam schritt die Trauergemeinde zur Kuslikana moderata. Die schwarzen Kleider der Damen, sparsam mit Silber durchwirkt, bauschten sich in den kreisenden Schritten, die Kusliker Kapotten der Herren warfen Falten bei den Verneigungen. Timor führte Lutisana zur Boronella, und nachdenklich hoben Edelleute von nah und fern funkelnde Bosparanjer-Schalen auf das Seelenheil des Toten.


Am traurigsten aller Tage des Jahres, am Grund des Jammertales, gab Neetha seinem Sohn das letzte Geleit. Es war ein südlicher Frühlingsabend, der Vorabend des Sonnwendfestes. Die lauen Nächte, die milde Luft dieser Tage verhießen einen Sommer von großer Schönheit. Über dem Rahjamond des alten Jahres hing ein Hauch wie süßer Abschiedsschmerz. Die Stunde des Abschieds war gekommen. Tief stand das Tagesgestirn, zürnend flammte das Firmament. Der weite Ozean im Westen glühte wie ein Meer aus flüssigem Gold. Leere Straßen schimmerten wie Ströme, an deren Ufern zahllose Menschen warteten. Ihre Arme und Gesichter, ihre weißen Tuniken: rotgolden, die Augen glänzten in der Dämmerung.

Scharlachrote Ritter vom heiligen Blute hielten die Straße frei. Soldaten der Kaiserin standen in Blau und Gold, nun Purpur und Sonnenglast, Spalier. Die Chababgarde war von der Novadigrenze zurückgerufen worden, um in der Stadt die Ordnung aufrecht zu erhalten. Selbst rotweiße Ritter der heiligen Ardare waren für diesen Tag abkommandiert. Über einen Weg von einer Meile, vom Chababischen Palast, durch das Herz der Stadt, bis zum Tempel des Sieges, stand eine zwölf Schritt breite Gasse offen.

Tausende und Abertausende formten ein lebendes Meer in den Straßen und Plätzen. Aus Stadt und Mark und Fremde waren sie in die von Phex und Efferd gesegnete Stadt geströmt: Menschen aus Neetha und Chababien, Drôl und dem Lieblichen Feld. Das Volk des Wilden Südens. Da drängten sich der Ziegenhirte aus den Eternenbergen und die Landarbeiterin von den Drôler Plantagen, der Fischer aus Arkis stand neben dem Pamphletisten aus Methumis, und Straßenkinder aus dem Elendsviertel stritten mit Schiffsmädchen vom Hafen um den besten Platz. Aus Fenstern und Loggien über den Köpfen des gemeinen Volkes beugten sich Patrizier und junge Damen, um nach dem Trauerzug zu spähen.

Die ersten Klänge des Trauermarsches wehten wie eine dunkle Wolke heran. Es war nur ein Thema in dieser Musik, doch von solcher Strenge und Erhabenheit, daß es zu einer herrlichen und schrecklichen Melodie wuchs. Sie nahte leise, gewann über die Herzen Macht und offenbarte ihre feierliche Größe. Was können Worte sagen! Traurig, tragisch, trübselig, schwermütig, melancholisch, makaber, klagend, tröstend war die Musik. Alle Teilnehmer des Konduktes gingen im langsamen, schleppenden, doch immer gleichen, unermüdlichen Takt des Trauermarsches. Wenn das Stück zu Ende war, begann es sofort, ohne Pause, wieder, und es schien, als könne die Prozession in diesem Schritt an die Grenzen der Welt, in Borons Hallen und die Ewigkeit marschieren.


Cedors Feldzeichen führte den Kondukt an. Unter dieser Fahne war er in die Dritte Dämonenschlacht gezogen und gefallen. Sie war so zerhauen, zerfetzt, durchstochen, aufgeschlitzt und von geronnenem Blut besudelt, daß die Wappenbilder kaum noch kenntlich schienen. Goldene und silberne Fäden, Flecken von Rot und Blau und auch ein wenig Grün blitzten auf. Man mochte ein Pferd ahnen, daneben ein großes rotes Tier, und war da nicht ein Schwertgriff? Fahnenträger Selo war einziger Überlebender aus der Dritten Schar der Trabantengarde. Trotzig trug er den verbeulten Küraß aus der Schlacht und die zerrissene Uniform in Blau und Rot. Die Lebenden und Toten hatten unsterblichen Ruhm an diese Fahne geheftet.

Nach der schwarz gekleideten Musikkapelle fielen die bunten Trachten der Geweihten ins Auge: rosenrot Padrigo Cornamusa, Vorsteher der Sankt-Sulvo-Sakrale, silbern-rot Ardarit und Gransignor Ricardo ter Bredero, golden-schwarz-rot Clotho von Beraniaburg, rondrianischer Abtmarschall von Ravensgard, dito Firion Wolfskind, Kegel des toten Feindes Rondradan Ravion, goldig Stadtpraiotin Utsinje di Forforo. In der Schar der einfachen Priester ging der einstige Visaristenführer Vitus Werdegast, neben sich den jungen Boroni Etilion.

Rhodeon hielt den Stab der Truchsessen lotrecht. Den ganzen langen Weg hielt der Greis eisern durch, den Stab genau und gerade. Ihm folgte ganz in Schwarz der Haushalt von Burg Eskenderun, all die Diener, Köche, Mägde, Knechte und Höflinge, die Cedor im Leben gedient hatten und denen er seine Kleider vermachte. In kurzem Abstand darauf kam eine Handvoll Veteranen der Dämonenschlacht: Söldner des berühmten Sturmbanners, fast die einzigen Überlebenden des Regiments Graf Khelianada. Es folgte eine lange Pause. Und dann, allein und hervorgehoben, kam ein Bild, das man nicht vergessen kann. Tarsim von Hussbek, der letzte Knappe des Gefallenen, führte ein fuchsrotes Pferd am Zügel. Cedors Pferd ohne Reiter.

Vier Kinder gingen in einer Reihe, zwei Knaben und zwei Mädchen. Cedors Kinder. Sie hielten samtene Kissen in den Händen. Tizzo präsentierte Cedors Sporen, Tilfur die Silbernen Schwerter, Tilliana die Gräfin-Tharinda-Medaille, Chaliane den Rosenblütenkranz. Diese Pretiosen glänzten golden und silbern auf, wenn die letzten Sonnenstrahlen auf sie fielen. Hinter ihnen ging Durnah, Cedors Bastardtochter, und präsentierte die leere Schwertscheide der Topaslöwin.

Nun nahte die Bahre. Vor ihr schritten drei Herolde: ein alter, ein junger und ein mittlerer. Auf dem Tappert des Greises sah man einen radschlagenden Pfau in Rot auf Blau, ein tanzendes Einhorn in Silber auf Rot, einen silbernen Kreis auf Rot und eine Chimäre in Rot auf Blau, die sich aus dem Haupt eines Löwen, den Flügeln eines Drachen und dem Schwanz eines Fisches zusammensetzte. Auf der Brust des Mannes prangten neben demselben Pfau und Einhorn der Kopf eines Esels in Silber auf Rot, dem aus dem Maul eine grüne Distel schaute, und ein novadisches Krummschwert in Gold auf Blau, das in zwei Teile zerborsten war. Der jüngste Herold trug blaß und stolz den Adler des Hauses Oikaldiki in Gold auf Rot zur Schau. Dreifach verkündeten sie den, der nach ihnen kam.


Hier kam der Tote. Cedor auf dem letzten Weg. Das mythische Licht der sterbenden Sonne rötete und vergoldete das Antlitz des Menschen. Viele sahen ihn durch einen Tränenschleier. Auf dem letzten Weg durch seine Stadt. Der Körper trug Kleidung im Chababischen Stil. Silbern und golden reflektierte sein tulamidischer Spiegelpanzer den Sonnenuntergang. Stutzhose, Beinkleider und Wamsärmel tranken dürstend Abendrot. Die Halskrause aus Drôler Silberspitze funkelte wie Tau in der Dämmerung. Gesicht und Hände leuchteten verklärt: Es war eine Szene jenseits der Zeit.

Der Leichnam ruhte auf einer reich versilberte Liege, wie sie bei altchababischen Gelagen verwendet wird. Das Altgüldenländische nennt solch ein Ruhebett Kline. Familienangehörige der Oikaldiken trugen ihren Toten: Prinz Chalam ay Oikaldiki, Ältester des Hauses, sein Neffe Signor Pulpio ay Oikaldiki-Korden, dessen Vetter Signor Anacino von Helmetto-Oikaldiki, dessen Bruder Alderio von Helmetto-Oikaldiki, Priester an der Sankt-Sulvo-Sakrale. Ihre vier Gesichter waren hart wie aus Stein gemeißelt. Die kindlichen Pagen Tayim und Jodok trugen lange Stangen mit den zwei bekannten Pfauenwedeln, welche diesmal mit schwarzen Schleifen umwunden waren. Dreiunddreißig junge Männer ganz in Schwarz folgten im Gleichschritt dem Toten, jeder für ein Jahr seines Lebens, und sie hielten brennende Kerzen in den Händen.

Lutisana war bleich wie der Tod. Die Witwe folgte im schwarzen Trauerkleid dem Leichnam ihres Geliebten. Herzeleid sprach aus ihren Augen, strenge Haltung bewahrte ihr Antlitz. Sie stützte ihren Arm auf den Erzherzog Timors, der Seite an Seite mit der Madonna im Kondukt schritt. Der kaiserliche Prinz wirkte in der Stunde seines Triumphes eher nachdenklich. Xandros, der Barbier des Trodinars, hielt einen zeremoniellen Sonnenschirm über das hohe Paar.

Eine Gruppe Klagefrauen mit verweinten Gesichtern raufte sich wehklagend das Haar. Die Prozession der weltlichen Trauergäste ging abermals in düsterem Schwarz einher. Signora Viviona ay Oikaldiki, intrigante Tante des Toten. Signor Enrisco da Vancha, Lutisanens trahelischer Galan. Baron Macrin vom Rauhen Berg, Cedors langjähriger Feind. Baronin Elanor von Efferdas, Chalianes künftige Schwiegermutter. Comtessa Siona ash Manek, Mutter des jungen Aran, den Cedor erschlagen hatte. Comtessa Arissa la' Mandaia aus dem alten Bund der Neun. Comtessa Yanis Neethling, mit Cedor Delegatin zu Praske. Baronin Delhena-Naila di Visterdi, mit der Cedor einen Winter in Ysilia verliebt verlebt hatte. Baron Ezzelino da' Malagreía, der innerchababische Gegner. Baron Agadir Elmayano, Freund des Toten. Gransignor Troyan von Ayrn, der auf Cedors Hochzeit vor dem Bethanier gewarnt hatte. Signorino Cyberian von Wolfenstein, skandalumwitterter Ex-Hofzauberer. Signor Nadon ya Balash aus der wildesten Wildnis des Wilden Südens. Seine Tochter Tallith, Ex-Capitaña der Trabantengarde. Signor Naldo von Saladuk, ein treuer Altchababier aus den Bergen...

Die Pavonische Trabantengarde unter Signor Edorian ya Timerlan marschierte im schwierigen Konduktschritt. Überall sanken die Fahnen: die Rondralöwin über dem Tempel des Sieges, das Schwert Armalion über der Ardaritenburg, der Horasadler über der Garnison, der Firdayondrache über dem Chababischen Palast.


Heilige Scheu stand in den Gesichtern der Tausende geschrieben. Mit weit aufgerissenen Augen musterten die Kinder das Schauspiel. Seit mehr als fünfzig Jahren, seit dem tragischen Tod des Markgrafen Rondrigo, war dergleichen nicht mehr gesehen worden. Viele fühlten, daß mit diesem Leichenbegängnis eine Epoche zu Ende ging. Mit dem Toten war der einzige Sproß des Markgrafen Phrenos gefallen. Die letzte Hoffnung des Hauses Oikaldiki, das Chababien sechs Jahrhunderte regiert hatte, ging mit ihm dem Scheiterhaufen entgegen. Ein neues Zeitalter dämmerte am Horizont herauf, und niemand wußte, was es bringen würde.

Im Namen des Alten Gottes spendete Tempelvorsteherin Arsella ihren Segen. Die ergraute Säulenhalle des ältesten Tempels der Stadt gemahnte daran, wie gering Leben und Sterben einzelner Menschen in der langen Geschichte Neethas letztlich waren. Worauf Wohl und Wehe der Gemeinschaft wirklich gegründet waren, stand in großen Lettern gemeißelt: Efarde Fexeque Saluta - Die Von Phex Und Efferd Gesegnete.

Vom Fenster seines Tempels herab segnete Vogtvikar Piro den passierenden Trauerzug. Do ut Des, war hier zu lesen. Händler aus dem Lieblichen Feld drängten sich auf der Loggia des Hotel Chababien. Unaufhörlich schlug die Menge das Boronrad. Seit Tagen waren alle Arkaden vermietet. Aus dem Menschenmeer ragte der Stadtbrunnen, mit Straßenkindern besetzt. Aus den Kellerfenstern des städtischen Karzers starrten schmutzige, bleiche Gesichter.

Matt glänzte die goldene Sonnenscheibe auf dem Dach der Sala del Sol. Die Kinder der Praiosschule drängten sich auf den untersten Stufen. Der Liste toter Helden auf dem Stein der Ehre wurde Cedors Name angefügt. Solange der Meißel klang, klatschten auch die Geißeln, mit denen Geweihte für die Sünden des Toten Buße taten. Über dem Portal des Praiostempels stand geschrieben: Salus Animarum Lex Suprema Est - Das Seelenheil ist oberstes Gesetz.


Alle Löwen falten ihre Flügel,
alles Gold der Stadt wird silbern.
Dere liegt in Schweigen,
denn sein Herr ist zur Ruhe gegangen.
Hell wird Dere:
Du bist im Horizont aufgegangen.
Du bist als Praios erstrahlt am Tage
und hast das Dunkel vertrieben.
Du spendest Deine Strahlen,
und ganz Aventurien ist in Festesfreude.
Die Menschen sind erwacht
und haben sich auf die Füße gestellt,
Du hast sie aufgerichtet.
Sie waschen ihren Leib
und nehmen die Kleider,
Ihre Arme beugen sich in Anbetung,
weil Du erscheinst.
Das ganze Land geht an seine Arbeit.
Alles Vieh freut sich über sein Futter,
Bäume und Kräuter grünen.
Die Löwen blicken über die Stadt,
ihre Flügel erheben sich in Anbetung
vor Deinem Geist.
Alle Lämmer hüpfen umher,
die Vögel und alles, was flattert,
Sie leben,
denn Du bist aufgegangen für sie.
Die Schiffe fahren stromauf
und auch stromab,
jeder Weg ist offen, weil Du erscheinst.
Die Fische im Strom springen
vor Deinem Angesicht,
denn Deine Strahlen
dringen in die Tiefe des Meeres.
Wie mannigfaltig sind Deine Werke!
Sie sind verborgen
vor dem Gesicht der Menschen.
Du hast Recht geschaffen
nach Deinem Herzen,
Du ganz allein,
für Menschen, Herden und Getier,
was immer auf Deren mit Füßen geht,
was immer in der Höhe ist
und mit seinen Flügeln fliegt,
für die Fremdländer über dem Meer
und das Land Aventurien.
Du setzt jedermann an seine Stelle
und sorgst für seine Bedürfnisse;
Jeder hat seinen Platz,
berechnet ist seine Lebenszeit.


Langsam, traurig und wehmütig langsam, durchmaß der Leichenzug die Thalionmelgasse. Die Menschen gedachten eines Sommertages vor vielen Jahren, als Cedor hier das Rennen um den heiligen Rock gewonnen hatte. Ein bärtiger, blonder Mann in geflickten Lumpen drängte sich zwischen zwei Gendarmen durch. Ehe ihn jemand hindern konnte - legte er eine blühende Distel zu Füßen des Toten nieder. Einen Augenblick später war er in der Menge verschwunden. Eine raunte es dem andern zu: der Bunte Gorm, jener berühmte Bandit.

Jaarn Firunwulf richtete sich mühsam auf, als der Trauerzug näherkam. Niemand erkannte den Bettler auf den Tempelstufen, der als Baron von Kabash mit Cedor befreundet war. Am Rand des Praters standen die Immanspieler von Horastreu Neetha und den Meeresreitern von Neetha in der ersten Reihe. Fackelschein glänzte auf silbernen Knöpfen blauer Schuluniformen, als die am Glacis angetretenen Kriegeraspiranten der Garnisonsschule vor dem Toten salutierten. Dann verjagten Novizen mit goldenen Stirnbändern den Bettler. Vae Victis, rief die Inschrift am Tempel des Sieges.


Die große Weihehalle des Siegestempels war ganz mit schwarzem Samt ausgeschlagen. Hoch in der dunklen Leere schien das in den Samt gestickte Wappen des Trodinars zu schweben. Gewaltig und geisterhaft zugleich erhob sich die weiße Kolossal-Statue Rondras vor dem dunklen Hintergrund. Vor diesem Standbild hatte schon Thalionmel gebetet. Nur einige wenige Wachskerzen spendeten schwachen Lichtschein von unten. Die Göttin war in ein ärmelloses, reich gefälteltes Gewand gehüllt. Ihre rechte Hand ruhte auf dem Knauf eines Schwertes. Über dem Gewand trug sie einen silbernen Schuppenpanzer, der Schultern und Brust wie ein Kragen umschloß und unterhalb der Brüste endete. Wo der Marmor Stoff vorstellte, war er matt und glatt wie frisches Linnen, wo er Haut darstellte, hingegen poliert, so daß er wächsern schimmerte. Das Gesicht der Göttin war nur noch undeutlich sichtbar, bekrönt durch einen geflügelten Helm. Vor dem wuchtigen Sockel der Statue stand ein marmorner Altar, auf dem die Kerzen in silbernen Leuchtern brannten.

Die Totenmesse begann mit dem Introitus. Flehend erklang aus vielen Kehlen der Choral "Pilgere zu Boron". Erdano ya Sciadappa und Oljana ya Cavacasta, die Schwertgeschwister des Tempels und der Burg, führten den Einzug der Geweihten an. An die zweihundert Teilnehmer des Konduktes füllten die Weihehalle: Familie, Verwandte, Adlige, Priester und Veteranen auf langen Bänken, die von schwarzem Samt verhüllt waren. Während Witwe und Geweihte einander im Strömen der Strophen stumm begrüßten, entstand am Eingang leichte Unruhe. Der Choral übertönte das Raunen, man sah nur suchende Blicke, die sich auf die unerwartet erschienene Äbtissin von Abbadom richteten.

In der Mitte der Weihehalle erhob sich ein niedriger Katafalk, von einem Tuch aus schwarzem Samt verhüllt. Hierauf setzen die vier Träger die silberne Kline mit dem Toten ab. Ringsum standen silberne Kandelaber, auf denen lange weiße Kerzen leuchteten. Priester der Rahja traten mit goldenen Gefäßen heran und begannen den Leichnam von seinen prachtvollen Gewändern im Chababischen Stil zu befreien. Sie entkleideten den toten Körper und wuschen ihn mit Wasser aus dem heiligen Born. Bleich lag der Leichnam auf der Liege hingestreckt. Die Geweihten küßten seine Wundmale. Sie salbten Stirn, Herz, Hände, Füße und Geschlecht mit duftendem Rosenöl. An sieben Stellen salbten sie ihn.

Priester der Rondra überführten einen silbernen Reliquienschrein mit gläsernen Fensterscheiben aus seiner Kapelle in die Weihehalle. Vorsichtig öffneten sie den fragilen Schrein und entnahmen ihm den heiligen Rock der Thalionmel. In höchster Devotion berührten ihre Hände das geheiligte Gewebe. In schneeweißes Linnen war blutrote Seide zum Bild der himmlischen Leuin gewirkt. Sie nahten mit dem Rock dem Körper, der ihn schon getragen hatte, und bekleideten ihn. Während all dieser heiligen Handlungen verstummte der Choral nicht.


Öffne nun, Uthar, des Jenseits dunkles Tor /
Betet zu Boron, vor Sünde seht euch vor /
Siehe nun, Seele, dich Rethons Richter nah /
Keiner kennt die Stunde, plötzlich ist sie da.
Quelle des Lebens, münde in das Meer /
Golgari trägt dich über graue Flut /
Leicht deine Seele, wo dein Leib war schwer /
Fahr auf zu Boron, denn er ist dir gut.
Pilgere zu Boron, kehre endlich heim /
Ruhe in Frieden, in stillen Hallen schlaf /
Bette dein Haupt, der Last des Lebens bar /
Im Schoß der Mutter, die dein Anfang war.


Meinhard von Hasenstein trat zur ersten Lesung vor den Altar. Ein Novize kniete vor ihm nieder und stützte das aufgeschlagene Buch auf seinen Scheitel. Feierliche Stille füllte den Raum. "Lesung aus dem Buch der Regeln. Jenseits des neblig grauen Alltagsmeeres und der hohen Zinnen der Sierra Monotonia liegt Aventurien, das Reich des Schwarzen Auges..."


Wer ewig leben will in Aventurien, :|
muß sterben als ein wahrer Held,
muß sterben um zu leben. :|
Er geht den Weg, den alle Dinge gehen. :|
Wer leben will, stirbt auch den Tod,
wer sterben will, wird leben. :|
Der Sonne und dem Regen preisgegeben: :|
der Weg ist weit, das Ziel ist fern,
und keiner kennt das Ende. :|
Die Menschen müssen für einander sterben. :|
Der Heldentod, er wird zum Lied,
und ewig lebt sein Name. :|
Don Cedor ist auf diesem Weg gegangen. :|
Er trägt das Los, er geht den Weg,
er geht ihn bis zum Ende. :|


Vitus Werdegast las aus dem Brevier der zwölfgöttlichen Unterweisung. "Zu Beginn, als die Lebewesen, die von Los kamen, die Welt besiedelten, kannten sie keinen Schlaf, kein Vergessen und keinen Tod. Die Pflanzen blühten, wuchsen und wucherten, bis der Boden nicht mehr zu sehen war. Die Tiere vermehrten sich, und ihre trampelnden Hufe und Pfoten schlugen Sumus Leib tiefe Wunden. Die Menschen zeugten Kinder, die heranwuchsen und wiederum Kinder hatten, und es war kein Platz mehr zwischen ihnen. Die Geister der Menschen sammelten in ihren endlosen Tagen Erfahrungen über Erfahrungen, und unter der Last der Erinnerungen waren sie kaum noch zu einem Gedanken fähig. Das Leben dehnte sich aus, überfüllte die Welt bis zum Ersticken und konnte doch nicht sterben. Da sprach Boron ein Wort - und das Wort war Tod."


Dies Iræ, Dies Illa,
Solvet Sæclum In Favilla:
Teste Illumnestræ Stilla.
Quantus Tremor Est Futurus,
Quando Judex Est Venturus,
Cuncta Stricte Discusurus!
Tuba Mirum Spargens Sonum
Per Sepulcra Regionum,
Coget Omnes Ante Thronum.
Mors Stupebit Et Natura,
Cum Resurget Creatura,
Judicanti Responsura.


"...Da war aber eine Kriegerin, Thalionmel mit Namen, die war eines Bauern Kind und eine treue Neethanerin. Obgleich sie erst achtzehn Jahre zählte, war sie doch von der Göttin mit Mut und starkem Arm gesegnet. Als sich also gar die Hauptleute zur Flucht wandten, da stand sie auf, ergriff Schwert und Schild und versperrte die Brücke, wo sie am engsten war. Viele der heranreitenden Wilden holte sie mit einem einzigen Schlag aus dem Sattel und ermöglichte so den letzten Soldaten und Landleuten die Flucht ans rettende Ufer..."

Einige Neethaner bewegten die Lippen mit, als die Geweihte Shanya ya Balash aus der Stadtchronik vortrug.

"...Und da die Wüstenkrieger sahen, daß ein Weib ihre Besten erschlug, da erfaßte sie noch größerer Grimm, und sie begannen, die Brücke mit einem Hagel aus Pfeilen zu bedecken, daß sich der Himmel verfinsterte. Thalionmel aber fuhr fort, wie ein Schnitter im Weizen unter den wilden Reitern blutige Ernte einzubringen. Als aber die Göttin dies erkannte, da sandte sie Unwetter und Hagelsturm und Flut. Und als Thalionmel schließlich fiel, durchbohrt von mehr denn fünfzig Pfeilen, da erhob sich eine Woge im Osten..."


Dir zu Ehren kämpfe und streite ich,
Dir zu Ehren nur in Deinem Namen.
Dir zu Ehren ich leb,
Dir zu Ehren ich sterb,
Dir zu Ehren bis in Ewigkeit.


"Rahja ist reine Freude! Die Freude ohne Ziel und Zweck und ohne Grund und nur für sich und aus sich selbst. Verstehst du das? Hast du beim brünstigen Liebesspiel wohl jemals Ihre Nähe gespürt im Augenblick der Gnade? War da nicht deine Seele frei und ihrer sterblichen Bande ledig? Daß Lust und Freiheit eins sind, das lehrt uns die göttliche Rahja. Daß der sterbliche Leib an der göttlichen Wonne schon hienieden teilhaft sein kann, ist Ihr Geschenk an uns. Wer Rahjas Gabe hat verstanden und angenommen ohne Scham, der ist Ihr wohlgefällig, und dessen Seele mag in Ihrem Paradiese Einlaß finden..."

Erwartung und Erinnerung malten sich in den Augen Alderios, des schönen Schmiedes und Rahjageweihten, als er den Blick von den "Zwölfgöttlichen Paradiesen" hob und ohne Stocken in der Lesung fortfuhr.

"...Der Göttin Gegenwart ist ihnen Lust, doch diese Lust ist anderer Art als in Aventurien hienieden. Weil sie nicht nach Erfüllung strebt. Als sei der Gipfelpunkt des Glücks in sich vollendet und ausgedehnt in Ewigkeit. Und damit nicht genug: Die schönen Seelen, die so ganz und gar sind angefüllet mit der Göttin Lust, sie sind für Diese wiederum ein ewiger Quell der Freude, woraus Sie selber schöpfet. Kannst du mir folgen? Dann verstehst du auch, was Rahjas Paradies so über alles sterbliche Maß hinaus wonnig macht: Daß die erwählten Seelen nicht nur empfangen göttliches Glück, daß sie es auch verschenken dürfen, daß Geben und Nehmen eins sind, und sie auf diese Weise eins sind mit der göttlichen Rahja."

"Dein bin ich, Rahja, und Dein ist meine Seele, Dein bin ich, Rahja, ein Menschenleben lang..." Immer wieder und wieder wiederholte der Chor der jungen Rahjahi diese Worte. Von Mal zu Mal entrückter, begeisterter, ekstatischer. Eine Hymne der Hingabe. Die Trauergemeinde stellte sich vor dem Katafalk zum Handkuß an. Auf chababische Art nahm sie Abschied. Auch Macrin und Siona ergriffen die leblose Hand und söhnten sich mit Cedor aus. Dann umarmten sie Lutisana und besiegelten mit geschwisterlichen Küssen das Ende alter Fehden.

Zur letzten Lesung warf Charina de Shilish einen Blick in den Regenbogen. "Die weitreichendste aller Prophezeiungen beschreibt das Ende des Weltalles. Am Ende aller Zeit, in einer Million Jahren, lodert das Urfeuer auf, das Los entfacht hat. Alt geworden über die Maßen, empfängt es den Leichnam der Sumu und damit alles Seiende. Aber auch Los tut Buße und wird vom Urfeuer umhüllt. Schließlich verglimmt auch das Urfeuer, fällt in sich zusammen, und die Asche verweht, bis Nichts ist. Doch der Wind der frei gewordenen Zeit entfacht erneut die Glut, und aus dem Urfeuer treten Los und Sumu, wiedergeboren und versöhnt, und das neue Alles beginnt."


"Ooo Su-umu..." Zur Gabenbereitung huldigte die Trauergemeinde der vom Schöpfer erschlagenen Urmutter. Weihrauch stieg in weißen Schwaden auf, während die auserwählte Gabe zum Altar getragen wurde. Aus dem Garten von Burg Eskenderun hatte man einen Pfau gebracht, das unverwesliche Tier und Wappen Cedors. Die jungen Zwillingssöhne des Toten vollzogen die Opferung. Der widerstrebende Vogel wurde von Tilfur auf den kalten steinernen Tisch gelegt und festgehalten. Die Kerzenflammen über den Silberleuchtern erzitterten leicht. Tizzo erhob die Arme gen Alveran und zückte das steinerne Messer.


O Sumu, all mein Leben bist du, ohne dich nur Tod.
Meine Hoffnung bist du, ohne dich nur Not! O Sumu.
O Sumu, all mein Friede bist du, ohne dich nur Streit.
Meine Liebe bist du, ohne dich nur Leid! O Sumu.
O Sumu, all mein Seele birgst du, ohne dich kein Leib.
Meine Freude bist du, ohne dich kein Weib! O Sumu.


Vergeblich sträubte sich das Tier. Knabenhand zwang es nieder. Da entfaltete der Pfau sein Gefieder und schlug das Rad. In diesem Lidschlag fuhr das Messer nieder. Heißes Blut spritzte auf den Opfertisch, rann über die Kante der steinernen Fläche und rötete die Hand, die getötet hatte. Es war vollbracht.


Thalionmel war eine Kriegerin,
Sie hielt unsre Brücke mit tapferem Sinn,
Sie hat uns gerettet, sie trägt die Kron,
Sie starb für uns, unsre Liebe ihr Lohn.
Einst hatte ein Bauer ein Töchterlein hold,
Die Augen so blau und die Haare wie Gold,
Gar schön von Gestalt und von aufrechter Art,
Eine bessere Maid nie gesehen ward.
Zu Neetha im Tempel der Löwin kühn,
Dort sah man die Jungfrau beim Standbilde knien.
Der Göttin Gefallen erregte sie bald,
Denn stolz war ihr Sinn, hoch ihre Gestalt.
Rastullah, der Wüstendämon, voller Neid,
Mißgönnte Frau Rondra die mutige Maid,
"Vernichtet dies Weib und brennt nieder die Stadt",
So befahl er im Grimme den Beni Novad.
Und der Wüstensöhne finsterer Hauf,
Zu Hunderten brachen gen Neetha sie auf,
Bedeckten das Land mit Feuer und Tod,
Getreu ihres grausamen Götzen Gebot.
Und als sie sich endlich Neetha genaht,
Da hatten gehalten sie blutige Mahd,
Und sie riefen voll Wut: "Nun soll fallen die Stadt,
Wie Rastullah, der Eine, geboten uns hat!"
Und die Bürger von Neetha, die fragten verzagt:
"Gibt es einen hier, der zu kämpfen wagt?"
Da rief Thalionmel: "Frau Rondra zur Ehr
Will aufhalten ich der Ungläub'gen Heer!"
Und sie hielt unsre Brücke, der Leuin gleich,
Und ihr blinkendes Schwert führte manchen Streich,
Und sie focht bis zum Abend mit Löwinnenmut,
Und der Chabab ward rot von der Feinde Blut.
Von Wunden bedeckt und von Pfeilen durchbohrt,
Focht sie bis zum Tode getreu ihrem Wort.
"Hilf, Herrin Rondra, und steh uns bei!"
So hallte zum Ufer ihr letzter Schrei.
Da machte Frau Rondra in göttlicher Wut
Das Wasser des Chabab zur reißenden Flut,
Die der Ungläub'gen Heerschar wohl mit sich nahm,
Und nicht einen gab es, der ihr entkam.
So ward Neetha gerettet nach Rondras Rat,
Und durch Ihrer Dienerin Opfertat,
Du blühende Blume, du Kriegerin hell,
Unsre Liebe dein Lohn, heil'ge Thalionmel.


Während die Trauergemeinde das Lied der Löwin von Neetha sang, zogen die Priester Rondras dem Leichnam den heiligen Rock wieder aus. Sie legten die Reliquie behutsam zurück in den gläsernen Schrein. Das Ende der Seelenmesse war nah. Nach kurzer Stille richtete die Äbtissin von Abbadom ein letztes Wort an die Witwe: "Der Kampf um die Schöpfung wird auf dem Boden Aventuriens entschieden. Wir leben in einer Zeit der Helden. Viele rangen mit Borbarad. Wir, die wir den Kelch der Winde wahrten. Sie, die sie das Opfer brachten: Sein und Leben. Einer von ihnen war Cedor Khelianada. Es kam der Tag, da sie entscheiden mußten, zu welchen sie zählen wollten: zu den Gerechten oder zu denen, die überleben. Sie trafen die Wahl: Sie starben, damit Aventurien lebe." Sie schlug das Boronsrad über die Trauergemeinde, und diese ordnete sich zum schweigenden Auszug.


Ein Spalier mit brennenden Fackeln erstreckte sich vom Tempel des Sieges in Richtung des Flusses Chabab. Als die schwankende Silhouette des Leichnams im hell erleuchteten Portal erschien, legte sich eine tiefe Stille über die Menge. Das Spalier reichte zur Furt der Thalionmel. Ein Nachen lag hier auf den Strand des Chabab gezogen. Scheite von Rosenholz waren darin aufgeschichtet und mit wohlriechenden Ölen getränkt. Cedors letzte Liegestatt. Das Heck ruhte noch im Sand des Diesseits, der wellenumspülte Bug wies bereits ins Jenseits.

Gesicht und Hände waren von Fackeln beleuchtet, alles andere lag im Dunkeln. Mit ausgebreiteten Armen schien er langsam zu schweben, als ob ihn nicht die schwarz verhüllten Männer seiner Sippe trügen. Sein dunkelblondes Haar fiel offen herab und breitete sich wie eine Aureole aus mattem Gold auf dem samtigen Schwarz des Bahrtuches aus. Nackt, in aller seiner Verletzlichkeit ausgesetzt, seinem Volk offenbar. Der menschliche Körper, Rahjas Geschenk, Sitz der Seele, Träne des Los. Nackt wie er aus dem Schoß seiner Mutter gekommen, kehrte er in den Schoß der Urmutter heim.

Der junge Priester Etilion trat den Trägern in den Weg: "Wer will Einlaß?" "Don Cedor ay Oikaldiki: Hochwohlgeboren, Trodinar und Generalkapitan von Chababien, Graf von Thegûn, Signor von Eskenderun, Träger der Amethystlöwin, Held der Dritten Dämonenschlacht!" Der alte Truchseß Rhodeon hob stolz und gebietend den langen Stab seines Amtes. Doch Borons Diener sprach: "Diesen kenn ich nicht. Wer will Einlaß?" "Don Cedor ay Oikaldiki: Trodinar von Chababien!" "Diesen kenn ich nicht. Wer will Einlaß?" "Cedor: ein armer Sünder." "Er trete ein."

Sie betteten den Körper behutsam auf das Rosenholz. Das viel durchbohrte, blutbefleckte Banner aus der Dämonenschlacht senkte sich. Unter diesem Zeichen hatte der Leichnam die lange Reise vom Blachfeld an den Strand des Meeres zurückgelegt. Sie nahmen das große, kostbare Tuch vom Schaft herab, trugen es hinab zum Nachen und senkten die Fahne sacht über den ruhenden Körper, seine Blöße bedeckend. Der greise Truchseß zerbrach seinen Stab und warf ihn zu Füßen des Toten. Die Orden beider Reiche gingen an jene zurück, die sie verliehen hatten. Die Zwillinge legten Cedors Sporen ins Boot. Chaliane bot ihrer Mutter den Rosenkranz dar. Lutisana drückte das goldene Gebinde an ihren Busen und wand es um die bleiche Stirn, die den Kranz bei vielen fröhlichen Festen getragen hatte. Sie zog ihren silbernen Siegelring mit der Gemme aus Feuer-Opal ab und steckte ihn an den Mittelfinger seiner rechten Hand. Im Monat der Tsa war er geboren, und im Feuer sollte sein derischer Leib vergehen.

Die Menschen löschten ihre Fackeln im Sand und Wasser des Chabab. Bald erstarb auch das letzte Knistern und Zischen. Es war sehr still. Ein schwacher Duft von Rosen stieg aus dem Nachen auf. Am nächtlichen Himmel standen die Sterne. Eine Nacht nach dem Neumond. Neujahrsnacht. Zeitenwende. Eine letzte Fackel wanderte durch die dunklen Reihen. Das Feuer kam vom Haus des Toten: In der Dreifrauenkapelle auf Burg Eskenderun brannte ein Ewiges Licht. Doch dieses Feuer hatte sich vor über tausend Jahren an den Bränden Bosparans entzündet.

Delhena trat vor. Das träumende Gesicht von der einzelnen Fackel beleuchtet, ihr rotes Haar durchscheinend in der Finsternis schwebend, begann sie den Nekrolog: "In der Tapferkeit und Liebe, in Schönheit und Ruhm soll uns niemand übertreffen. Unsere Freuden sind die höchsten, unsere Leiden die tiefsten. So leben und so sterben wir. Ich entsinne mich der Stunde, in der Cedor diese Worte sagte: die Hochzeit auf Eskenderun..."

Lutisanas Gedanken wanderten zurück zu einem Morgen, der lange vergangen war. Cedor lag mit zerzaustem Haar neben ihr. Es fiel kein Wort. Sie liebkosten einander mit träumenden Augen. Doch Delhena war Cedors letzte Liebe gewesen.

"...Nehmt an unser Opfer. Er war uns teuer, dessen sterbliche Hülle wir dem heiligen Feuer überantworten. Steige mit dem Rauch dieses Leibes die Seele empor nach Alveran. Werde ihr Freude im Paradies und reihe sie sich ein in die Heere der Schöpfung, die ewige Wacht halten am leuchtenden Sternenwall gegen die gesichtlose Finsternis. Omnia ad maiorem gloriam Deorum."


Im Namen Golgaris,
des Führers durch die Sphären:
Gleite fort über das Nirgendmeer.
Möge dein Selbst sich nicht verlieren
auf dem Weg zum letzten Gericht.
Marbo, erhöre unsere Bitte.
Im Namen Uthars, des ewigen Wächters:
Jeden erwartet sein eigenes Paradies.
Der Tod trennt dich von den Lebenden.
Wir werden einander niemals wieder suchen.
Rethon, fälle dein Urteil.
Im Namen der Vergänglichkeit:
Wir verbrennen dich und dein Andenken.
Möge nichts von dir bleiben, als ein sanfter
Traum, der im Schlafe verblaßt.
Herr, schenke uns Vergessen!


Tizzo und Tilfur traten vor. Die Zwillinge hoben die Hände zum Eid im Chor. Tausende schwiegen totenstill. "Vater, in dieser Stunde, vor deinem Leichnam, bei diesem Feuer, schwören wir dir: Du wirst in uns auferstehen. Blut von deinem Blut, Blut von unserm Blut: dein Erbteil bis ans Ende aller Zeiten. Aut Cedor Aut Nihil."

Lutisana selbst legte die Fackel an das Boot. Kurz züngelte die Flamme über das Rosenholz, bis es Feuer fing. Gierig loderten die Feuerzungen auf, von kostbarem Öl genährt. Meinhard und Xandros stießen den Nachen hinaus in den Chabab. Einen Augenblick zögerte das Boot, dann faßte es die langsame, doch unwiderstehliche Strömung, und es trieb in schwarzen Wellen der Mündung entgegen.

Das brennende Boot bot einen schönen, schaurigen Anblick, wie es in seiner Gloriole aus rotem Feuerschein in der finsteren Nacht dahinfuhr. Viele Augen sahen ihm nach. Langsam glitt der Nachen in das weite, offene Meer hinaus. Das Feuer verzehrte den Leichnam. Der Nachen trieb in das Nirgendmeer. Mögen die Götter über uns lachen.


Es kommt ein Schiff gefahren, / gefüllt bis an sein Bord,
um Cedors Leib zu wahren, / der Seele zeitlich Hort.
Das Schiff geht still im Triebe, / es trägt ein teure Last,
das Segel ist die Liebe, / die Treue ist der Mast.
Cedor muß sich verzehren, / verbrannt im Abendrot,
und er wird wiederkehren / in einer Zeit der Not.

Michael Hasenöhrl