Briefspiel:Die Vistelli-Drillinge
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Iridanië II. Vistelli
Wie ein Splitter im Spiegel
Farsid, Residenz der Familie Tribêc, Anfang Firun 1044 BF
Der Tag war grau wie die steinernen Löwen am Torbogen des Tribêc-Hauses, und der Himmel hatte die Farbe von nassem Papier. Nebel hing in den Gassen, zog durch die Kolonnaden und ließ selbst die silbernen Mützen der Laternenanzünder matt erscheinen. Farsid schien an diesem Morgen den Atem anzuhalten.
Iridanië stand am Fenster ihrer Kammer und ließ den Zeigefinger am kalten Glas entlanggleiten. Unten im Hof wurde ein Karren mit winterlichen Stoffballen entladen: blassblau, perlmutt, ein Hauch von Violett. Die Farben, die in Farsid als angemessen für eine junge Dame galten. „Nicht mehr Kind, noch nicht Frau. Schwebe, Kindchen, schwebe“, hatte ihre Mutter Rahjane gestern gemurmelt, als sie den neuen Stoff zur Anprobe bringen ließ.
Ein Klopfen an der Tür, knapp und hart.
„Ein Brief für Euch, werte Dame“, sagte der Haushofmeister, ein dürrer Mann mit schiefer Stimme, der bei jeder Bewegung knirschte wie der Kies im Innenhof.
Iridanië nahm das Pergament, musterte den Absender. Kein Siegel. Die Schrift fein, fast wie gestochen.
„Die Maske des Schweigens kennt keine Wahrheit, die ihr nicht auch euch selbst verschweigt. Kommt heute zur zweiten Abendstunde in den Lesesaal der alten Stadtkanzlei. Bringt keine Fragen mit. Nur euren Verstand.“
– Ein Freund der Wahrheit
Sie faltete das Schreiben langsam zusammen, das Herz in der Brust klopfte wie ein Regentropfen auf gespannte Haut. Es war nicht der erste dieser Briefe, aber der erste, der so deutlich war. Wer mochte dahinterstecken? Einer der jungen Hofschreiber? Ein Adlatus der Kanzlei? Oder gar ein Gelehrter?
Sie trat einen Schritt vom Fenster zurück. Unten wurde eine weitere Stoffrolle entladen, diesmal in tiefem Karmin. Sicher für eine ältere, eine höher gestellte Hofdame. Nicht für sie. Noch nicht.
Später, zur zweiten Abendstunde, alte Stadtkanzlei
Der Lesesaal war kalt, trotz der zwei Öllampen, die an den Wänden brannten. Der Raum roch nach trockenem Leder, Buchrücken und einer Ahnung von altem Rauch. Iridanië trat ein, das Haar mit einem violetten Schleier bedeckt, die Schultern in einen Reiseumhang gehüllt, den sie sich geliehen hatte, von der Kammermagd, heimlich.
Ein Mann stand am Ende des Raums, den Rücken ihr zugewandt. Jung, wie es schien, aber mit einer Haltung wie gemeißelt. Als er sich umdrehte, offenbarte sich ein Gesicht, das weder schön noch auffällig war, aber sehr klar.
„Ihr seid gekommen. Das ehrt euch.“
„Wer seid Ihr?“, fragte sie, und sofort ärgerte sie sich. Sie war doch vorbereitet gewesen, hatte sich eine Reihe scharfsinniger Eröffnungen zurechtgelegt. Doch die Worte waren ihr entglitten.
„Ein Freund eurer Gedanken“, sagte der Fremde, „und eurer Zweifel. Ich habe eure Randbemerkungen in der Salonrunde gehört. Euer Zitat des Kanzlers. Eure Korrektur von Rahjanes Verweis auf das Codexbuch. Ihr habt ein Gedächtnis wie eine Falle.“
Iridanië hielt den Atem an. Der Schleier rutschte über ihr Ohr. „Warum habt Ihr mich herbestellt?“
Er trat näher. Die Öllampe warf seinen Schatten über das Tischpult zwischen ihnen.
„Weil ihr eine Vistelli seid. Und eine Tribêc. Aber mehr noch, ihr denkt selbst. Das ist selten. Und gefährlich.“
„Wieso gefährlich?“, fragte sie, und diesmal klang ihre Stimme fest.
Der Mann lächelte, oder tat zumindest etwas, das wie ein Lächeln wirkte.
„Weil in Farsid jeder weiß, was du sagen darfst. Und vor allem, wann du es nicht sagen darfst.“
Ein Augenblick Stille. Draußen schlug irgendwo eine Glocke, keine Stunde, sondern ein Signal. Iridanië hob das Kinn.
„Dann sagt mir, Freund der Wahrheit, was darf ich sagen?“
Der Mann deutete auf einen der Lesesessel.
„Setzt euch, Iridanië. Wir beginnen mit dem Codex der Masken.“
Sie setzte sich. Der Stuhl war niedriger als erwartet, das Holz hart, das Polster dünn. Der Mann gegenüber blieb stehen, legte jedoch die rechte Hand auf die Rückenlehne des gegenüberliegenden Sessels, nicht als Einladung, sondern als Grenzmarkierung. Licht und Schatten verteilten sich seltsam im Raum. Die Flammen der Öllampen zitterten kaum. Iridanië musterte ihn. Der Stoff seines Mantels war schlicht, aber gut geschneidert. Seine Hände waren gepflegt. Kein Ring.
„Der Codex der Masken ist kein Buch“, begann er, die Stimme leise, aber geschliffen, „und doch gibt es ihn. Ihr habt ihn gesehen, Iridanië, ohne ihn je gelesen zu haben. Er steht nicht in Regalen, sondern in Gesichtern. Er ist kein Gesetz, und doch wird man euch richten, wenn ihr ihn verletzt.“
Sie neigte den Kopf. „Und Ihr glaubt, ich könnte ihn verletzen?“
„Ich glaube, Ihr habt es bereits getan.“
Er ließ sich nun doch nieder, gegen jede höfische Etikette auf der Sesselkante sitzend, den Blick offen, aber nicht weich.
„Ihr seid in Farsid. Hier spricht niemand die Wahrheit. Nicht aus Feigheit. Aus Kunst. Und ihr, junge Dame, habt vor einer Woche die Dichterin Olrena von Mareno in einem Salon widerlegt, öffentlich. Und sie hat gelächelt. Aber ihr Sohn hat euch nicht mehr zum Tanz gebeten.“
Iridaniës Miene veränderte sich kaum, doch ein leichtes Erröten trat auf ihre Wangen. Sie erinnerte sich. An den Wein. An Olrenas Satz über die Pflichten der Schönheit. Und an ihre Erwiderung:
„Wer Schönheit als Pflicht begreift, missbraucht die Gnade Rahjas für die Eitelkeit des Gesetzes.“
Sie hatte nicht gedacht, dass es mehr war als ein Moment des Witzes.
„Also“, sagte sie, leiser, „ich habe eine Regel gebrochen.“
„Ihr habt sie gesehen“, entgegnete der Mann, „und euch nicht abgewandt. Das ist alles. Noch.“
Eine Weile saßen sie schweigend. Draußen hallte das Klappern von Hufen über das Pflaster. Das Pony der Stadtgarde, das um diese Stunde seinen Ritt an den Palazzi entlang begann.
„Und was wollt Ihr von mir?“, fragte Iridanië schließlich. „Wenn das alles war, hättet Ihr mir auch eine anonyme Anmerkung in den Handschuh legen können.“
„Ich will, dass ihr lest“, sagte er, und aus einem Futteral unter seinem Mantel zog er ein Buch. Kein offizielles Werk, dazu war es zu dünn und zu schmucklos. Das Leder war schon grau, der Buchrücken zeigte keinen Titel.
Er legte es vor sie, doch nicht nahe genug, um es gleich zu erreichen.
„Dialog über die dritte Maske. Ein Traktat aus historischen Zeiten. Es erklärt, warum in Farsid immer drei Wahrheiten zugleich gelten: Was gesagt wird, was verstanden wird, und was niemals ausgesprochen werden darf.“
Iridanië streckte die Hand aus. Ihre Fingerspitzen berührten das Leder kaum.
„Ist es verboten?“
Der Mann schwieg. Dann sagte er: „Es ist in Vergessenheit geraten. Was im Lieblichen Feld oft dasselbe bedeutet.“
Sie hob das Buch auf, schlug es nicht auf. Noch nicht. Ihre Stimme war nun fast heiser, aber klar: „Ich werde es lesen.“
Der Mann erhob sich. Eine Bewegung, ein Schatten, eine Stille.
„Dann, Iridanië Vistelli, beginnt eure wirkliche Ankunft in Farsid.“
Er trat an die Tür, öffnete sie mit einem leisen Klicken. Bevor er ging, wandte er sich noch einmal um.
„Wenn euch jemand fragt, wo ihr wart, sagt: bei Garderobe, Aufputz und Dekor. Niemand wird widersprechen.“
Dann war er fort.
Und sie blieb zurück, mit einem Buch in der Hand, das schwerer wog als jede Stoffrolle im Hof.
Iridanië Vistelli an Rowena Vistelli
An meine geliebte Schwester Rowena,
Palazzo Vistelli, Sewamund
Farsid, 10. Firun 1044 BF
Geliebte Ro,
ich hätte dir längst schreiben sollen, aber Farsid hat eine andere Art, mit der Zeit umzugehen. Hier verrinnen die Stunden nicht, sie schleichen, und wenn man nicht aufpasst, stiehlt einem der Tag die Bedeutung aus den Dingen. Oder vielleicht füllt er sie mit zu viel davon.
Du fragst dich sicher, wie es mir hier ergeht. Ich kann dir keine einfache Antwort geben, denn das wäre hier, wie mir jemand erklärte, zu offensichtlich. Ich glaube, das ist eine höfische Umschreibung für „gefährlich offenherzig“. Also sei beruhigt: Ich lächle zur rechten Zeit, schweige bei den Mahlzeiten und nicke, wenn jemand über die Tugenden der Anmut spricht.
Ich hatte eine Begegnung. Nein, keine, die du dir gleich in deinen Kopf fantasierst, ich kenne dich ja. Es war keine Flamme im Herzen, sondern eher ein Funke im Verstand. Jemand hat mir ein Buch gegeben, aber nicht im Salon, nicht in der Bibliothek, nicht bei Tante Saya im Tribêc-Haus. (Die weiß übrigens alles, was man nicht sagen darf.)
Das Buch heißt Dialog über die dritte Maske. Kein Autor. Kein Titel auf dem Rücken. Kein Eintrag im Katalog der Bibliothek. Es riecht nach Staub und Einsamkeit. Ich weiß nicht, ob ich es lesen darf. Also werde ich es lesen.
Rowena, manchmal frage ich mich, ob du die Leichtigkeit, die du trägst wie ein Kleid, bewusst gewählt hast. Oder ob sie dich gewählt hat. Ich beneide dich darum. Hier, in dieser Stadt, wiegen selbst die Schatten der Worte schwerer als Gewänder. Vielleicht sollten wir tauschen, du kommst her und tanzt am Hofe, ich gehe nach Sewamund und lese Papagei Horasio göttliche Verse vor.
Oder nein. Ich glaube, ich muss hier sein. Etwas hat begonnen. Ich weiß nicht was. Vielleicht ist es auch nur ein Gedanke, der beschlossen hat, Wurzeln zu schlagen.
Grüße Onkel Gerodan von mir. Sag ihm, sein letzter Brief war vorbildlich lang, aber bedenklich trocken. Und bitte: verrat Mutter nicht, was ich dir geschrieben habe. Schreib ihr von Stoffen, vom hiesigen Salon, von Tante Sayas neuem Kater (er existiert), und dass ich die Etikettelektionen überlebe.
Ich umarme dich im Geiste und denke an dich, wenn ich das nächste Mal schweigen muss.
In Zuneigung,
deine Iridanië
Rowena Vistelli
Rowena Vistelli an Iridanië Vistelli
An Iridanië, meine seltsame, kluge, geliebte Schwester
Farsid, Haus Tribêc
Methumis, 20. Firun 1044 BF
Meine beste Iridanië,
dein Brief hat mich im Gasthaus Zur Alten Laterne erreicht, einem Ort, der stark nach Pferd riecht, aber dafür die besten gefüllten Nudeln in ganz Methumis serviert. Ich habe ihn fünfmal gelesen, nicht aus Eitelkeit, sondern weil er wie ein Parfum wirkt: man weiß nie, welcher Duft sich beim nächsten Lesen entfaltet.
Also, ja, du hast es vielleicht geahnt: Ich bin in Methumis. Endlich. Am großen Collegium der Plattfüße eingeschrieben, untergebracht bei einer Verwandten dritten Grades väterlicherseits, die behauptet, unsere Familie sei einst mit einem hochelfischen Chor verheiratet gewesen. Ihre Katze heißt Rahjas Wahrheit. Ich überlege, ihr das Gegenteil zu beweisen.
Die Vorlesungen sind, nun, nennen wir sie höflich „geordnetes Rauschen“. Aber der Garten des Westflügels! Dort sitzt mittags ein junger Tulamide mit dem Hang, halblaut gegen die offiziellen Lehrmeinungen zu disputieren. Ich habe ihm gestern widersprochen. Heute brachte er mir Datteln. Fortschritt?
Du schreibst von einem Buch, die dritte Maske, wie poetisch! Ich hatte keine Ahnung, dass du so schnell so tief in den Spiegel von Farsid blickst. Ich hatte eher vermutet, du würdest als erstes die Tavernen katalogisieren und dich in eine Verschwörung um kandierte Mandeln verstricken. Aber ein geheimer Mentor, ein schattenhaftes Traktat, ein Lesesaal im Zwielicht: Schwester, bist du sicher, dass du nicht längst in einem Schauspiel steckst?
Pass auf dich auf, Iridanië. Farsid kann den Geist schärfen oder ihn zersplittern lassen, wenn man zu früh in die Mitte blickt.
Und nun zu Lorion.
Der jüngste Vistelli mit dem ältesten Gesicht. Er ist inzwischen wieder häufiger bei Gerodan zu sehen. Ich glaube, er versucht, brauchbar zu sein. Das ist sein neues Wort. Neulich hat er den Lilienratsdiener über die Fischsteuer befragt. Eine halbe Stunde lang. Ich glaube, er weiß nicht, ob er ein Vistelli mit Kodex oder ein Tribêc mit Gewissen sein will. Oder ein Baron. Oder ein Richter. Oder ein Bildnis seines eigenen Ideals. Aber wenn er aufhört, uns ständig belehren zu wollen, ist er fast zu ertragen. Ich glaube, er will bald nach Shenilo, zu Onkel Rondrian. Ich sage es dir: Er wird dort entweder ein Landgericht führen oder heiraten. Beides in falscher Reihenfolge.
Ich habe dir übrigens über die Tribêc-Magd in Farsid ein Päckchen geschickt, mit einem neuen Briefpapier für dich. Es duftet nach Lorbeer. (Nicht metaphorisch. Riech wirklich dran.)
Schreib mir bald wieder. Und wenn du das nächste Mal schweigst, tu es wenigstens mit Bedeutung.
In Liebe, mit Augenzwinkern
deine Ro
Grün unter den Fingernägeln
Methumis, Peraine-Schule, Anfang Firun 1044 BF
Der Wind roch nach Erde. Nicht nach Stadtstaub, nicht nach fischiger Kälte wie in Sewamund, sondern nach echtem, feuchtem, atmendem Boden. Rowena stand im Hof des Hauptgebäudes der Peraine-Schule von Methumis, in einem Mantel, der zu hell war für diese Stadt, zu weich für diese Pflanzbeete, und zu teuer für das, was sie jetzt tun sollte.
„Setzt den Finger tiefer an den Wurzelhals, Hochgeboren. Sonst sprecht ihr in drei Tagen mit einer welken Moosfeder, nicht mit einer Tarnele.“
Die Stimme kam von links, herb wie Birkenrinde. Die Sprecherin war Schwester Noridia, die Novizin der vierten Reihe. Das war kein ordentlicher Titel, sondern schulinterne Ironie. Jeder wusste, dass Noridia die Prüfungen bestanden hatte, aber nicht aufsteigen wollte. Weil sie beobachten wollte, wie sie sagte. Beobachten und aufschreiben.
Rowena senkte die Finger tiefer. Das Kraut fühlte sich feucht an, fast lebendig.
„Verzeiht, Schwester Noridia, aber ich bin eher vertraut mit Nothilf und Briefen. Mein Umgang mit Wurzeln war bisher rein … rhetorisch.“
„Das sieht man.“ Noridia lächelte nicht. Sie war zu weise zum Spott, zu müde für Geduld, und zu freundlich, um zu gehen.
„Aber Ihr seid gekommen. Und das ist in Methumis mehr als die halbe Behandlung.“
Der Hof lag still, nur der Springbrunnen plätscherte. In der Pergola diskutierten zwei Studiosi über die Zusammenhänge zwischen Lebertemperament und Launen bei den Schwermütigen. In einem der Fensterbögen sang jemand Peraineverse, gedämpft, auf Chababisch.
Rowena richtete sich auf. Ihre Hand war erdig, ihr Kleid befleckt, ihre Fingernägel nicht mehr adelsweiß.
Sie lächelte.
„Ich habe gestern eine Hufwunde versorgt. Bei einem Esel. Der Bauer sagte, er hätte noch nie ein so höfliches Mädchen gesehen, das seinen Fuß geputzt hat.“
„Und Ihr?“, fragte Noridia.
„Ich habe gesagt: Eure Hufe sind in besserem Zustand als die Manieren mancher Cousins. Der Esel hat geschnaubt. Ich deute das als Zustimmung.“
Ein leises Glucksen aus der Pergola. Noridia drehte sich nicht um, aber man sah, dass sie das Geräusch gehört hatte.
„Ihr werdet lernen, Rowena Vistelli. Vielleicht nicht schneller als die anderen, aber vielleicht mit mehr Farbe. Und das ist ein Anfang.“
Rowena nickte. „Und wenn ich versage?“
Noridia zuckte die Schultern. „Dann heilt Euch die Erde selbst. Oder die Schwester, die Ihr dann um Verzeihung bittet.“
Am Abend schrieb Rowena in ihr neues Studienbuch:
Heute habe ich etwas gefunden, das sich nicht wie Pflicht anfühlt. Es wächst. Und ich darf es anfassen.
Vielleicht ist das Heilen wie Poesie. Nur mit mehr Schmutz und weniger Applaus.
Lorion IV. Vistelli
Lorion Vistelli an Rowena Vistelli
An Fräulein Rowena Vistelli,
Heilkundige und gelehrteste Schwester,
Peraine-Schule zu Methumis
Garnison zu Shenilo, Rondrianscher Küchentisch, 23. Firun 1044 BF
Rowi, du meine Erretterin von der Langeweile,
noch ehe ich das Siegel aufbreche, das du mir mit so zierlicher Hand auf deinen letzten Brief gepresst hast, weiß ich schon: Deine Feder ist gefährlicher als ein Schwert im Badewasser. Ich habe den Brief fünfmal gelesen: viermal wegen der Informationen und einmal, um mir vorzustellen, wie deine Stirn sich in Falten legt, wenn du ihn schreibst. Du weißt, ich mag dieses Gesicht dann sehr.
Hier in Shenilo gedeiht mein Gemüt so herrlich wie deine Weisheit in Methumis.
Ich werde unterrichtet vom ehrenwerten Hauptmann Rondrian Vistelli, ja, dem Rondrian aus den Familiengeschichten. Der Mann, der mit seinem Florett spricht wie andere mit ihren Hauskatzen. Sein Befehlston klingt wie eine Mischung aus Opernarie und Küchenbefehl, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie überzeugend man „Ducken, Drehen, Dichten!“ rufen kann, wenn man gleichzeitig auf ein Butterfass einprügelt.
Sein „Lehrplan“ (wenn man es so nennen darf) besteht aus:
Marschieren mit Haltung, auch wenn die Gänse fliehen,
Taktischem Baden, in voller Rüstung, versteht sich,
und dem stillen Leiden, während er Gedichte über Waffenöl rezitiert (sein Sonett über Schmierfett war... bewegend).
Seine Frau, Jana, du würdest sie mögen. Ruhig, klug, schweigsam wie eine Tempelstatue, aber mit Augen, die alles sehen. Ich bin sicher, sie führt ein geheimes Buch mit Rondrians besten Zitaten. Vielleicht darf ich eines Tages das Vorwort schreiben.
Und Iridanië?
Ich habe einen ihrer Briefe gelesen. Rein zufällig, wie du dir denken kannst. Farsid hat sie gefressen, aber sie tanzt dem Verdauungstrakt der Stadt mit spitzen Worten entgegen. Offenbar hat sie einen geheimen Mentor, liest verbotene Bücher und denkt über Dinge nach, die selbst Nandus schwindelig machen würden.
Du hingegen, du pflanzt Möhren um und massierst Kühe. Heilung ist heilig, gewiss, aber Kräuterbuchführung, Rowi? Ich frage mich, ob du auch die Stimmung deiner Kamille katalogisierst.
Und? Hat dich endlich jemand in deinem Lehrgarten angesprochen? Ein junger Geweihter mit lockigem Haar und mangelnder Subtilität? Oder der schöne Gärtner, der dir versehentlich den Wasserkrug reicht und dann rot wird?
Ich vermisse dein Augenrollen. Das wird sich nie ändern.
Schreib mir bald. Und schick mir keine selbstgepflückten Kräuter. Beim letzten Mal hat der Stallknecht drei Tage gekrümmt im Abort gelegen.
In ewiger Bosheit,
dein Lorion (nicht IV. – nur du darfst mir ohne Zahlen schreiben)
P.S. Jana hat mir beigebracht, wie man Wundsalben mischt. Ich überlege, eine eigene Schule zu gründen: Vistelli & Vistelli – Für den Schmerz, den das Leben nicht heilt.
Die Würde des Sturzes
Shenilo, Exerzierplatz der Stadtgarde, frühmorgens, Anfang Phex 1045 BF
„Ein echter Vistelli fällt niemals!“, dröhnte Rondrian Vistelli.
Pause.
„Er... weicht kreativ aus!“
Der Morgennebel hatte sich noch nicht erhoben und der Exerzierplatz war feucht vom nächtlichen Tau. Ein paar Hühner, offenbar Überbleibsel der gestrigen Küchendiplomatie, gackerten unter den Arkaden. In der Mitte des Platzes stand Lorion, vierzehn Götterläufe jung, in einer Rüstung, die ihn eher zu erdrücken als zu schützen drohte, und starrte auf ein in Sägemehl gezimmertes Hindernis, das vage einem Rondrakamm ähnelte, wenn man sehr müde war und an eine sehr schlechte Zeichnung dachte.
„Herr Onkel, darf ich höflich anmerken, dass dieses Hindernis auf keiner bekannten Formation basiert?“
„Unsinn!“, bellte Rondrian, „das ist Formation Lotoskrabbe! Entwickelt von mir selbst beim Duell gegen Hauptmann Durano auf einem rollenden Karren voller Schilf! Es hat ihm das Nasenbein gekostet!“
„Euer Ernst?“
„Nie!“, sagte Rondrian triumphierend und klopfte Lorion auf die Schulter. Die Geste ließ den Jungen fast nach vorn kippen. Die Rüstung schepperte beleidigt.
„Also, was ist die Aufgabe heute?“, fragte Lorion, der innerlich zwischen Kapitulation und Mordplänen schwankte.
Rondrian holte tief Luft. „Du wirst rennen, springen, dich abrollen, aus dem Stand angreifen, und dann, während du dir vorstellst, du seist ein aufrechter Held in einer Oper, mit Würde stürzen.“
Lorion blinzelte. „Verzeiht, aber mit Würde stürzen? Wie soll das gehen?“
„Selbstverständlich!“ Rondrian hob bedeutungsvoll den Zeigefinger. „Man fällt nicht. Man verkündet dem Boden, dass man seine Ankunft vorbereitet hat!“
Hinter ihnen klapperte es leise. Jana, seine Frau, stand am Rand des Platzes, ein Tuch um die Schultern, eine Teeschale in der Hand, der Ausdruck auf dem Gesicht irgendwo zwischen milder Faszination und resignierter Bewunderung.
„Wenn du fertig bist, Rondrian“, rief sie ruhig, „der Tee wird kalt. Und der Boden hat schon genug Besucher für heute.“
„Richtig!“, rief Rondrian. Dann zu Lorion: „Du beginnst in zehn Herzschlägen. Ich zähle in Gedanken, damit du überrascht bist.“
Lorion seufzte. „Das überrascht mich schon jetzt.“
Und dann lief er los. Die Rüstung schepperte, das Sägemehl stob, die Hühner flohen in Panik. Lorion sprang, landete, rollte sich halbwegs erfolgreich ab und stürzte mit einem dramatischen Keuchen in den vorbereiteten Sandhaufen.
Ein Moment Stille.
„Hervorragend!“, brüllte Rondrian. „Das war Falltyp heroisches Stolpern! Ich gebe dir eine Sieben!“
Jana trat näher. „Von zehn?“
„Nein. Von sieben.“
Lorion stöhnte aus dem Haufen. „Darf ich jetzt Tee trinken? Oder muss ich erst noch aus Anstand sterben?“
„Tee ist für Sieger. Und für jene, die fallen wie Sieger!“
Lorion grinste, schob sich ächzend hoch und klopfte den Sand aus der Kleidung. Als Rondrian ihm beim Aufstehen half, war sein Griff fest, aber herzlich.
„Du wirst ein Vistelli, Junge“, sagte er leise. „Kein einfacher. Aber ein aufrechter.“
Lorion nickte. Und für einen Moment, zwischen Lachen, Staub und einer Geste, die fast väterlich war, fühlte es sich so an, als hätte er gerade wirklich etwas gelernt.
Wenn auch nicht das, was er erwartet hatte.
Lorion Vistelli an Iridanië Vistelli
An die ehrbare Fräulein Iridanië Vistelli,
Schülerin der Spiegelworte, Maskenträgerin zu Farsid
Auf welchem geheimen Parkett du dich auch gerade bewegst.
Shenilo, Garnison, Ende Phex 1045 BF
Iridanië, du wandelndes Rätsel in Röcken,
ich schreibe dir zwischen zwei Lektionen über die Kunst, mit einem Dolch korrekt eine Wendeltreppe hinab zu stürzen. Rondrian nennt es „taktisches Gravitätsbewusstsein“. Ich nenne es „morgendliche Demütigung mit Aussicht auf Prellungen“. Aber du weißt ja: Ein Vistelli fällt nie, er flirtet mit dem Boden.
Ich hoffe, dieser Brief erreicht dich, bevor du dich völlig in dein neuestes philosophisches Labyrinth verirrst. Man munkelt, du würdest mittlerweile beim Atemholen in Aphorismen sprechen. Und wenn du dann nicht sprichst, zitierst du mit den Wimpern.
Farsid, wie du es mir schilderst (bzw. verschweigst), klingt wie ein einziges Kleid aus seidenen Lügen, das sich um jede Wahrheit windet, bis man selbst daran erstickt. Ich bewundere dich dafür, wie du dort atmest, und dass du dabei noch andere zum Schwitzen bringst.
Was mich betrifft? Ich habe in Rondrians Gemächern einen geheimen Schrank mit Einlegearbeiten aus Weidenholz gefunden, darin verbarg sich sein „Archiv der ehrenhaften Niederlagen“. Kein Scherz. Er notiert dort jeden Fall vom Pferd, jeden verlorenen Bierkrugwettstreit und, ich zitiere, „eine Affäre mit einer Baronessa, die mein Degen nicht retten konnte.“
Ich habe eine Seite hinzugefügt. „Lorion, bei der Parade, geblendet vom Charme einer Bäckerstochter, lief frontal in das Banner des Hauses Gabellano.“ Rondrian nennt es nun „Die Episode der süßen Zuckerschande“.
Jana, die schweigende Allwissende, hat mir gestern eine Kiste mit getrocknetem Thymian geschenkt. Ohne Worte. Ich glaube, das war eine Mahnung. Oder ein Vertrauensbeweis. Oder sie will, dass ich koche. Oder schweige. Was meinst du?
Nun zu dir, Schwesterherz. Ich weiß von Rowi, dass du einen geheimen Lehrer hast. Ein Mann, der dir Bücher reicht wie andere Blumen. Du hättest mich sehen sollen, als ich das las. Ich war kurz davor, eifersüchtig zu werden auf eine Fußnote. Ist er hübsch? (Sag nichts, wenn er es ist, wird er bald tot sein. Vor Ironie.)
Ich stelle mir vor, wie du vor einem Spiegel stehst, mit der dritten Maske auf dem Tisch, eine Kerze flackert, dein Schatten tanzt, und du sprichst mit ihm über Gerechtigkeit, während du ihn mit einem Blick zersägst.
Schreib mir, Iridanië. Und schreib ehrlich. Du weißt, ich erkenne es, wenn du lügst, sogar zwischen den Zeilen. Du machst das immer mit zu viel Stil.
In Bewunderung, Bosheit und brüderlicher Verbundenheit,
dein Lorion (der Unvermeidliche)
P.S. Falls du mir ein Buch schicken willst: nichts mit Fußnoten. Es sei denn, die Fußnoten haben Intrigen, Duelle oder kokette Alchimisten.
P.P.S. Rowi behauptet, du hättest neulich einen Juristen zum Weinen gebracht. Ich bin so stolz. Ich warte nur noch auf den Tag, an dem du einen ganzen Salon zum Schweigen bringst, mit nur einer Frage.
Lorion IV. Vistelli und Iridanië Vistelli
Zwischen allen Dingen
Anfang Peraine 1045 BF, Farsid
Die Stadt roch nach Rauch. Nicht dem schweren, feisten Geruch brennender Kohle, sondern dem feinen, würzigen Dunst von Laubfeuern in den Vorhöfen, wo die Diener die Bäume entlaubten wie Gelehrte, die Bücher entblättern. Farsid bereitete sich vor. Auf den Wandel. Auf die Dunkelheit. Auf das, was unter Masken wächst, wenn die Tage kürzer werden.
Iridanië Vistelli schritt über das Pflaster der Straße vor der Kanzlei, ihr Mantel nur lose gebunden. Eine Hand hielt ein Pergamentbündel, die andere ein Paar Handschuhe, schwarz und gewunden wie Rauch. Sie war gewachsen, nicht an Körper, nicht in Statur, sondern im Schatten, den sie warf. Ihre Stimme klang ruhiger, wenn sie sprach. Und gefährlicher, wenn sie schwieg.
Der Freund der Wahrheit hatte sich Ende des letzten Jahres zurückgezogen. Kein Brief mehr, keine Treffen in der Kanzlei. Stattdessen hatte er ein einziges Buch hinterlassen, mit einer einzigen Notiz:
„Wahrheiten brauchen Dunkelheit, um zu reifen.“
Sie hatte das verstanden. Mehr, als sie zugeben wollte.
Heute jedoch erwartete sie jemanden.
In einem Seitenraum des Gelehrtentrakts, wo das Licht durch grüne Fensterscheiben fiel wie durch Wasser, trat Lorion Vistelli ein. Größer als zuvor. Die Schultern nicht mehr nur stolz, sondern gespannt, als hielten sie mehr als nur Muskeln. Ein Knabe war er nicht mehr, aber auch noch kein Mann. Nicht im höfischen Sinne. Und gerade deshalb wirkte er, als könne er es jedem Fürsten schwermachen.
„Du trägst Schwarz. Wer ist gestorben?“
Iridaniës Stimme war leise, aber scharf wie eine Seidennadel.
„Meine Geduld. Sie ist heute früh im Duell mit einem Priester gefallen. Thema: Würde unter Schweiß.“
Sie hob eine Braue.
„Du riechst nach Pferd.“
„Besser als nach Parfum, das nach Angst duftet.“
Er trat näher. Kein Zögern. Kein Respekt. Nur Verwandtschaft.
„Du siehst müde aus“, sagte er.
„Du siehst aus wie jemand, der das sagen darf“, erwiderte sie. Ein halbes Lächeln.
Zwischen ihnen lag ein Tisch. Darauf: Tee, zwei Kelche, eine Schale mit salzigen Mandeln (Iridaniës Schwäche). Und ein Pergament, unbeschrieben. Ein Symbol. Oder eine Einladung.
„Warum hast du mich herbestellt?“, fragte er.
„Weil du wieder Briefe schreibst, in denen du zu viel zwischen die Zeilen legst und zu wenig in sie hinein.“
„Und weil du meine Handschrift vermisst?“
„Nein“, sagte sie, „weil ich deine Gedanken vermisse, bevor sie vom Spott gefressen werden.“
Ein Moment Stille. Draußen rief ein Kutscher seine Tiere zur Ruhe.
„Ich will wissen, wer dein Mentor war“, sagte Lorion.
„Er ist fort.“
„Und?“
„Und er war nur eine Stimme. Ich habe gelernt, meine eigene zu benutzen.“
„Und wenn du dich irrst?“
„Dann schreibe ich es nieder. Und du wirst es lesen.“
Lorion nickte. Griff zur Mandelschale. Ließ sie dann stehen.
„Rondrian lässt dich grüßen. Er sagt, du sollst nicht vergessen, dass manche Masken nur dann fallen, wenn man nicht hinsieht.“
Iridanië sah ihn an, prüfend. Kein Spott, kein Vorwurf.
„Also bleibst du in Shenilo?“
„Ja. Rondrian meint, ich müsse erst lernen, aufrecht zu stehen, bevor ich andere lenken darf. Und Jana sagt, das gilt auch für Gedanken.“
„Dann wirst du kein Stratege?“
„Doch“, sagte er ruhig. „Aber einer, der weiß, wann man nicht kämpfen sollte.“
Iridanië lehnte sich zurück. Ihre Stimme wurde weich.
„Rowi wird sich freuen. Sie hat gesagt, du wärst zu klug für den Stahl und zu schön für den Staub.“
Lorion lächelte.
„Und du? Was wirst du jetzt tun? Jetzt, wo du alle Masken gesehen hast?“
Sie antwortete nicht sofort. Dann, mit jener Stimme, die sie nur in Momenten völliger Ehrlichkeit benutzte:
„Ich schreibe an einem Buch. Es heißt Der vierte Spiegel. Es geht um uns.“
„Uns Vistellis?“
„Uns drei. Und das, was zwischen uns liegt.“
Lorion schwieg.
Dann hob er seinen Becher. „Auf die Wahrheit. Und darauf, dass sie hässlich sein darf.“
Iridanië stieß an.
„Und auf uns. Mögen wir lernen, wann man schweigt, und wann nicht.“
Sie tranken und für einen Moment war es still zwischen ihnen. Die Art von Stille, die entsteht, wenn zwei Menschen dasselbe denken, aber noch nicht wissen, wie sie es sagen sollen.
Lorion stellte den Becher ab, fuhr sich über das Kinn und sah zu ihr hinüber. „Du weißt, dass ich das Buch lesen will, nicht wahr?“
„Es ist noch roh. Es sticht zurück, wenn man es anfasst.“
„Wie wir alle.“
Sie nickte.
„Du solltest Rowi schreiben“, sagte sie dann. „Sie hat deine letzten Zeilen dreimal gelesen und behauptet, sie hätte dabei gelächelt. Was, wie du weißt, eine Lüge ist.“
„Ich weiß. Sie hat dabei wahrscheinlich die Stirn gerunzelt, den Brief gegen das Licht gehalten und leise Idiot gemurmelt.“
„Und dann eine Seite aus ihrem Kräuterbuch gerissen, um dir zu antworten.“
Lorion grinste. Dann erhob er sich langsam.
„Ich muss zurück. Rondrian hat angekündigt, mich morgen mit verbundenen Augen über den Turnierhof von Mortêc zu jagen. Für die Sinne, sagt er.“
„Und was sagt Jana?“
„Verletz dich nicht, sagt sie immer.“
Iridanië stand ebenfalls auf. Sie schob ihm das kleine, unbeschriebene Pergament zu.
„Für deine Gedanken. Die zwischen den Zeilen.“
Lorion nahm es. Steckte es ein, ohne es anzusehen.
Sie nickten sich zu. Nicht als Abschied, sondern als Fortsetzung.
Beim Hinausgehen ließ Iridanië den Blick noch einmal über den Tisch gleiten. Ihr Becher war leer, doch auf dem Boden schimmerte noch ein Rest Tee wie flüssige Bronze. Lorion schob den Stuhl geräuschlos zurück, schulterte seine Manteltasche, und für einen Moment berührten sich ihre Hände beiläufig auf der Tischkante, wie ein letzter Gedanke, der sich nicht aussprechen ließ. Dann drehte er sich um, der Tür zu, öffnete sie, zögerte kurz. Iridanië blieb stehen, unbewegt, und doch war ihr Blick auf ihn gelegt wie eine schützende Klinge.
„Bis bald“, sagte er über die Schulter. Nicht laut. Aber deutlich genug.
Sie antwortete nicht. Aber ihr Nicken war weich und schwer zugleich.
Lorion stand allein, für einen Moment. Dann fuhr er sich durch das Haar, seufzte, und murmelte:
„Ich brauche dringend einen Brief von Rowena.“
Er trat aus dem Trakt hinaus auf den stillen Hof, wo die Schatten der Fenstergitter sich wie Gefängnisstäbe über das Pflaster zogen. Ein Windstoß fuhr ihm unter den Kragen, trug den Geruch von Papier, Stein und verblühenden Zierbüschen mit sich. Der Geruch von Farsid, wie sie ihn alle kannten und nie ganz verstanden.
Er blieb stehen. Ein Postreiter führte gerade sein Pferd durch das Tor der Kanzlei. Lorion zögerte nur einen Herzschlag lang, dann ging er schnellen Schrittes auf ihn zu.
„Wartet einen Moment“, rief er, und zog einen zusammengefalteten Bogen aus seiner Manteltasche. Das unbeschriebene Pergament, das Iridanië ihm überlassen hatte.
Mit dem Rücken gegen die Mauer und einem Stück Kohle aus dem Futter seiner Tasche schrieb er hastig, schief, und doch mit jenem Tonfall, den Rowena sofort erkennen würde: Mischung aus Spott, Wärme und jener Sehnsucht, die er nie zugeben würde. Dann faltete er es sauber zusammen, versiegelte es mit einem Tropfen Wachs vom Gürtellicht und gab es dem Reiter.
„An die Peraine-Schule zu Methumis“, sagte er. „An Fräulein Rowena Vistelli. Und sagt ihr, sagt ihr, sie soll mir bald antworten. Ich, ich habe zu viel gedacht.“
Der Reiter nickte, nahm den Brief an sich und ritt davon.
Lorion blieb noch einen Moment stehen, bis das Hufklappern verklang. Dann wandte er sich ab, den Weg zurück im Kopf und die Worte seiner Schwester im Herzen.
Rowena Vistelli an Lorion IV. Vistelli
An Lorion, der schreibt, wenn der Wind richtig steht und sein Herz irrt
Peraine-Schule zu Methumis, 7. Peraine 1045 BF
Lieber Lorion,
dein Brief roch nach Kohle und Unsinn. Ich habe ihn gleich zweimal gelesen, einmal mit Kräuterkissen im Rücken, einmal mit dem Rücken zur Wand. Beides half nichts: Deine Handschrift ist schlimmer geworden. Und deine Gedanken tiefer. Das gleicht sich aus.
Du schriebst, du hättest „zu viel gedacht“. Das ist, wie wenn Rondrian sagt, er habe „maßvoll getrunken“. Also selten. Aber wenn’s passiert, hinterlässt es Spuren.
Dein letzter Satz, „Ich habe zu viel gedacht“, war übrigens eingerahmt von einem Fleck. Wachs? Träne? Oder der Abdruck deines Daumens, nachdem du zu viel nachgedacht hast? Ich stelle mir vor, wie du das Pergament an der Wand zerknüllst, dann wieder glättest, dann schreibst wie ein Einbrecher, der sich vor seiner eigenen Tür fürchtet.
Ich habe ihn trotzdem behalten.
Hier ist alles wie gewohnt. Schwester Noridia lehrt mit dem Tonfall einer betrunkenen Druidin, und der hübsche Gärtner hat mir einen Efeurankenkranz gebracht. Ich habe ihn an eine Ziege verfüttert, um Missverständnisse zu vermeiden. Meine Mitschülerin Valtra sagt, ich sollte mehr zulassen. Ich habe geantwortet, dass ich lieber Türen schließe als Fenster aufzureißen. Du siehst: Die Philosophie gedeiht.
Dein Pergament lag auf meinem Bett, als hätte Peraine selbst es mir hingelegt. Und während ich dies schreibe, läuft in der Küche ein Samowar über, Schwester Enna flucht, und draußen wirft der Wind Schatten an die Mauern – lang, wie Gedanken, die nicht zu Ende gedacht werden.
Wenn du schreibst, dass Iridanië nun über uns schreibt, frage ich mich, ob du Angst davor hast. Ich nicht. Ich will wissen, wie sie uns sieht. Wie du mich siehst. Und ob ich mich selbst erkenne, wenn ich zwischen euren Zeilen auftauche.
Du fehlst. Auch wenn du das liest und grinst wie ein Schelm im Weihrauch. Ja, Lorion: Du fehlst. Du und dein dämlicher Humor, dein aufrechter Blick, dein Widerspruch gegen alles, was leicht ist. Du fehlst wie Wärme in den langen Gängen, wie ein Sonnenstrahl auf dem Verband.
Schreib mir bald. Oder komm. Aber wenn du kommst, trag saubere Stiefel. Und lüg nicht, wenn ich frage, wie es dir geht.
Immer du. Immer ein bisschen zu viel.
Rowena
P.S.: Wenn Rondrian dich mit verbundenen Augen jagt, sag ihm, er soll es auch mal mit verbundenem Mund probieren. Jana wird es mir danken.
Rahjane Vistelli
Rosen, Rüstung, Rahjawein
Palazzo Vistelli, Sewamund, an einem späten Morgen im Peraine 1045 BF
Der Innenhof des Palazzo Vistelli war erfüllt vom Duft reifer Pfirsiche und dem trägen Summen dicker Stadtbienen, die sich um eine halb aufgegessene Tarte stritten. Zwischen zwei Säulen hing eine seidene Hängematte wie ein Versprechen, und darin – wie eine Göttin der Unvernunft – schaukelte Rahjane Vistelli. In der einen Hand hielt sie ein Glas mit eiskaltem Wein, in der anderen eine Pfauenfeder, mit der sie sich abwechselnd Luft zufächelte und den Bauch kraulte.
Orban Vistelli saß im Schatten einer Feigenpflanze, den Blick auf eine Pergamentrolle gerichtet, in der er vielleicht Notizen zu einer Erzählung gemacht hatte. Vielleicht war es auch nur eine Einkaufsliste.
„Also...“, begann Rahjane mit einem gedehnten Seufzen, „wenn Lorion noch ein bisschen größer wird, kann man ihn vielleicht endlich mal heiraten.“
Orban blinzelte. „Rahjane, das ist dein Sohn.“
„Ach so! Stimmt.“ Sie lachte glockenhell. „Ich meinte ja auch: verheiraten. Mit jemandem. Vielleicht mit dieser... wie heißt sie... Nanduria? Die mit den runden... Argumenten.“
„Du meinst vermutlich Rowena. Seine Schwester.“
„Oh.“ Pause. „Na dann lieber nicht. Obwohl, rein rhetorisch wär’s eine starke Verbindung.“
Orban atmete ein, wie ein Philosoph vor einer zu großen These. „Ihre Beziehung ist... komplex. Wie Gegensätze in einem Gleichgewicht, das ständig neu verhandelt werden muss. Sie fordert ihn heraus. Und er, er verwandelt sie.“
Rahjane verdrehte die Augen. „Du sprichst wieder wie bei der letzten Familienfeier. Kein Wunder, dass dich Tante Leonora für einen Hochstapler gehalten hat.“
„Ich habe einen Vortrag über ästhetische Dualität gehalten.“
„Ja, genau. Dabei wollte sie nur wissen, ob die Tapeten beige oder creme sind.“
Orban schwieg. Er hatte verloren. Wieder einmal.
Rahjane setzte sich ächzend auf, ihr seidener Morgenmantel rutschte gefährlich über eine Schulter. Sie schien es nicht zu bemerken. Oder ganz sicher absichtlich zu ignorieren.
„Und Iridanië? Die schreibt jetzt Bücher. Ich mein, echte Bücher. Nicht nur diese Briefe mit zu vielen Wörtern.“
„Sie schreibt, um zu ordnen, was sie spürt. Weil sie in dieser Ordnung hofft, einen Sinn zu finden.“
„Ich schreib auch manchmal. Einkaufslisten. Und dann kauf ich einfach das, was hübsch aussieht.“
Orban sah zu ihr. „Du brauchst keine Ordnung. Du lebst in der Poesie des Zufalls.“
„Oooh! Das klang, als wär’s ein Kompliment. War’s eins?“
„Ja.“
„Dann wiederhol es, aber nackt.“
„Rahjane...“
Sie lachte, warf die Pfauenfeder nach ihm, verfehlte ihn völlig und ließ sich wieder zurück in die Hängematte fallen.
„Ich mein ja nur: Unsere Kinder sind alle irgendwie... verrückt. Auf ihre Art. Aber vielleicht ist das genau richtig. Ich bin auch ein bisschen verrückt. Und du bist klug. Irgendwer muss ja das Chaos sortieren.“
„Ich sortiere nicht. Ich beobachte, wie das Chaos neue Formen schafft.“
„Aha.“ Pause. „Und wer putzt das dann alles weg?“
„Dafür haben wir Jarmilda.“
Im selben Moment trat Jarmilda, die Haushofmeisterin, auf leisen Pantoffeln durch den Torbogen. Sie trug ein Tablett mit Tee, Gebäck und einer Notiz, die offenbar mit Iridaniës Handschrift versehen war.
Rahjane schnappte sich den Zettel, überflog ihn, runzelte die Stirn und lachte dann glucksend.
„Sie hat das Wort ‚epistemisch‘ benutzt. Wie süß! Ich wusste nicht mal, dass das eine Frucht ist!“
Orban nahm ihr den Zettel aus der Hand, betrachtete ihn andächtig.
„Sie stellt Fragen, die niemand sonst stellt. Und das ist gut.“
„Ja“, sagte Rahjane und grinste über das ganze Gesicht, während sie sich das restliche Gebäck einverleibte. „Solange sie nicht fragt, wo all die Feigen geblieben sind.“
Die Glocke des Turms der Stadtwache schlug die Rahjastunde. Und inmitten von Leinen, Lachen und Lebensphilosophie verflüchtigte sich der Morgen wie Rosenduft auf heißem Stein.
Der Nachmittag roch nun nach warmer Feige, Rahjawein und einem Hauch Parfum, den Rahjane vor Stunden versprüht, aber nie wirklich losgelassen hatte. Die Hängematte schwang sachte. Jarmilda hatte sich diskret zurückgezogen, und Orban hatte sich in seinen Sessel zurückgelehnt, den Brief seiner Tochter wie eine Artefaktanalyse betrachtend.
„Also...“, begann Rahjane wieder, die Zehen in der Sonne spreizend, „wenn ich an dieses Turnier denke, Mortêc, dann seh ich Onkel Rondrian ja direkt in so 'nem offenen Hemd auf einem fetten Pferd sitzen, mit wehenden Haaren und frechem Grinsen. So richtig ein Held auf Besuch.“
„Er ist nicht angetreten. Er hat sich geweigert, sich zur Schau zu stellen, wenn zu viele Menschen anwesend sind, die nie gefallen sind.“
„Pah! Was für ein Vistelli-Satz! Der alte Recke hätte dabei so schön ausgesehen... Stell dir nur vor: Rowena am Rand, mit einem Blütenkranz in der Hand, den sie ihm nicht gibt, weil sie ihn vorher an einen verletzten Hund gebunden hat.“
„Und Iridanië auf der Tribüne, den Notizblock in der einen, ein ironisches Lächeln in der anderen Hand.“
„Genau! Und ich mittendrin, mit Sonnenhut, Fächer und einem schicken Kleid, über das Leonora wieder tuschelt. Ach, Orban, wir hätten dorthin reisen sollen, ganz ohne Lanzen.“
Orban schüttelte lächelnd den Kopf. „Du würdest in Mortêc für mehr Wirbel sorgen als das Ende der Tjoste. Wahrscheinlich hättest du versehentlich einen Ritter zur Aufgabe gebracht, nur indem du genickt hast.“
„Ich nicke halt sehr überzeugend. Frag Rondrian.“
„Ich fürchte, Rondrian hätte lieber den Helm aufbehalten, wenn er ihn nicht Lorion geliehen hätte.“
Rahjane schlug sich prustend auf die Oberschenkel. „Oh, Götter, der Helm! Ich stell mir grad Lorion vor, wie er in Rüstung vorm Spiegel posiert, mit diesem Blick, den er aufsetzt, wenn er denkt, niemand sieht ihn. So ein bisschen tödlich, aber küsst gut.“
„Das ist sein gefährlichster Ausdruck.“
„Und Rowena... die würde heimlich Blätter aus dem Garten zwischen seine Rüstung schieben, mit beruhigender Wirkung. Damit er nicht überhitzt oder zu übermütig wird.“
Orban faltete die Hände, sinnend. „Sie sind ein Bild des Gleichgewichts. Einer brennt, die andere kühlt. Einer fragt, die andere heilt.“
„Und Iridanië? Die analysiert.“ Rahjane wackelte mit den Zehen. „Ich wette, sie hat längst einen Aufsatz darüber geschrieben, warum Lanzen männliche Symbolik verdrängen, wenn man sie auf Wappen überträgt.“
„Sie hat mir tatsächlich einen Text geschickt: Zur Semiologie der Tjosts als Spiegel höfischer Machtdynamiken. Er ist... brillant.“
„Und ganz sicher nur etwas für wenige Leute.“
„Es kommt darauf an, wem man ihn vorliest.“
Rahjane griff nach einer Weintraube, verfehlte sie, und entschied sich stattdessen für den Fächer. Sie sah ihn nicht an, als sie sagte:
„Ich hätte sie manchmal gern ein bisschen einfacher. Dann würden sie mich öfter um Rat fragen.“
Orban neigte den Kopf. „Sie fragen dich dauernd, nur anders. Lorion fragt, wie man sich selbst vergibt. Rowena fragt, wie man weitermacht, wenn etwas weh tut. Und Iridanië fragt, was du tust, wenn niemand hinsieht.“
„Dann tanze ich“, flüsterte sie.
„Ich weiß.“
Eine Weile war nur das Rascheln der Blätter zu hören. Ein Diener kreuzte im Hintergrund mit einer Schale kandierter Veilchen. Rahjane schnappte sich zwei, eine für sich, eine für Orban, und warf ihm ihre zu. Er fing sie, mühelos.
„Weißt du“, sagte sie dann, „wenn sie sich je alle verlieben, also so richtig, dann will ich, dass sie’s uns sagen. Und dass wir lachen. Und dann helfen. Und dann betrunken werden.“
„Du meinst: dass du betrunken wirst.“
„Du trinkst dann mit.“
„Nur, wenn du tanzt.“
„Abgemacht.“
Sie stießen mit Veilchen an, die Trauben in der Sonne platzten leise auf, und irgendwo, ganz weit entfernt, übte ein Stadtbarde einen Reim auf Rhododendron.
Es war ein gutes Jahr für die Vistellis. Und es war noch lange nicht vorbei.
Lorion und Rondrian Vistelli
Rückweg von Mortêc, Ende Peraine 1045 BF
Ein verstaubter Weg, zwei Pferde, ein Gespräch
„Ich sag’s dir, Junge“, begann Rondrian und ließ sein Pferd sanft in den Trab fallen, „wenn die Ritterin mit dem schwarzen Löwenwappen noch einmal versucht hätte, ihr Ross mit einem Pfiff zu lenken, ich hätte ihr meinen Helm serviert, mit Rahjakrautfüllung.“
„Sie hatte Stil“, erwiderte Lorion grinsend. „Und sehr blondes Haar.“
„Stil ist keine Entschuldigung für Unfähigkeit. Sonst wärst du längst Kommandant.“ Rondrian zwinkerte und nahm einen Schluck aus der Feldflasche, die nach Pflaumenwein roch.
„Ich bin nicht unfähig. Ich bin... poetisch kampfbereit.“ Lorion ritt dicht neben ihm, die Rüstung auf dem Sattel verschnürt, das Turnier noch in den Gliedern.
„Du hast es richtig gemacht“, sagte Rondrian nach einer Weile. „Nicht nur kämpfen, sondern hingucken. Aber in die richtige Richtung.“
„Ich hatte das Gefühl, dass alle gesehen werden wollten. Nur wenige wollten wirklich gesehen werden.“
Rondrian hob eine Braue. „Jetzt wirst du alt. Oder weise. Oder beides. Willst du darüber ein Gedicht schreiben?“
„Hab ich schon.“ Lorion kramte in seiner Weste und zog ein gefaltetes Blatt hervor. „Titel: Turnier der Unmaskierten. Nicht öffentlich.“
Rondrian nahm es nicht an. Stattdessen sagte er: „Du hast Familie im Blick. Ich hab deine Augen beobachtet. Du kämpfst anders.“
„Ich kämpfe gegen den Moment, in dem ich nichts sagen darf.“
„Dann wirst du irgendwann Befehlshaber. Oder Barde. Oder beides.“
„Du klingst wie mein Vater.“
„Ich hoffe nicht. Ich habe bessere Beine.“
Sie lachten. Dann ritt Rondrian einen Moment voraus, die untergehende Sonne malte Gold auf seine Schultern.
„Sewamund kommt bald“, sagte er schließlich. „Aber du wirst es anders sehen, glaub ich. Nach Mortêc. Nach all dem.“
Lorion nickte langsam. „Ich glaube, ich will lernen, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen. Und zwar nicht in Befehlstimme oder glänzender Rüstung. Sondern im Gespräch. Im Zweifel. Im Erkennen.“
Rondrian drehte sich im Sattel. „Dann reit. Ich folge dir. Aber wehe, du redest wieder über Gefühle, bevor wir in der Stadt sind.“
Lorion grinste. „Dann los. Aber in Sewamund kaufe ich mir erstmal eine neue Weste. Die Turnierluft hat dieser hier mehr Einsicht eingeblasen, als mir lieb ist.“
Sie ritten weiter. Zwei Vistellis auf staubiger Straße, zwischen Rittertum, Erkenntnis und dem festen Vorsatz, bei der nächsten Gelegenheit gemeinsam Unsinn zu stiften.
Palazzo Vistelli, Sewamund, Abenddämmerung, Ende Peraine 1045 BF
Es war später Nachmittag, als die Tore des Palazzo Vistelli sich öffneten und zwei Reiter vom staubigen Weg her einritten. Rondrian Vistelli, das Schwert am Gürtel und den Umhang lässig über die Schulter geworfen, war dem Weg über Mortêc anzusehen, und Lorion, leicht gebräunt und mit neuem Glanz in den Augen, schien gewachsen. Nicht nur an Haltung.
Die Bediensteten verneigten sich kaum merklich, als die beiden Herren ihre Pferde dem Stallknecht übergaben. Der eine mit einem „Sorgt mir gut für ihn, das Tier hat mehr Ehre als manch Adliger!“, der andere mit einem simplen „Dank euch. Und gebt ihm Wasser.“
Im Innenhof war es still, abgesehen vom Zirpen einiger Grillen und dem fernen Klirren von Porzellan, das irgendwo auf einem Teetablett klirrte.
Im großen Salon des Palazzo, in dem die Nachmittagsschatten durch bunte Fenster fielen wie zerbrochene Träume aus Glas, lag Rahjane Vistelli auf einem Diwan, der zugleich Sitzgelegenheit und Argument gegen den Ernst des Lebens war. Ihre Zehen wackelten im Rhythmus einer Melodie, die nur sie hören konnte, während sie gedankenverloren mit einem Rosenzweig spielte.
Orban stand am Fenster, ein schmales Notizbuch in der Hand, in das er Sätze schrieb, die entweder brilliant oder komplett unverständlich waren. Als das Klopfen der Ankunft ertönte, hob er den Kopf.
„Lorion“, murmelte er, ohne aufzublicken, „und Rondrian. Ich erkenne das Tempo am Klang der Schritte.“
„Und am Maß der Ironie“, ergänzte Rahjane. „Nur sie schleppen beides mit der gleichen Lässigkeit.“
Die Tür öffnete sich. Lorion trat ein, gefolgt von Rondrian, der eine staubige Geste der Begrüßung andeutete.
„Familie!“, rief Rondrian mit Inbrunst. „Das, was einem bleibt, wenn man beim Turnier keine Rose bekommt.“
„Du hast nicht einmal teilgenommen“, stellte Orban fest.
„Ich war da. Das genügt manchmal als Mahnung.“
Lorion verneigte sich leicht vor seiner Mutter. „Du siehst... farbenfroh aus.“
„Und du siehst aus, als hättest du gewonnen, aber das Pferd wollte es nicht zugeben“, grinste sie.
„Setzt euch“, sagte Orban. „Jarmilda bringt gleich Tee.“
„Tee?“, fragte Rondrian entsetzt. „Wo ist der Wein? Ich habe Staub geschluckt, Ehre verteidigt und mir eine Theorie über Schildführung im Stile der südvelirischen Schule anhören müssen!“
„Dann darfst du dir die Weinsorte aussuchen“, sagte Rahjane süß.
Tsaida Tribêc trat wenig später durch einen Seitengang ein. Sie trug ein helles Gewand mit goldenen Stickereien.
„Ihr sitzt in der Sonne“, stellte sie fest. „Das freut mich. Es wird Zeit, dass dieser Palazzo wieder Stimmen kennt, die nicht von Bediensteten stammen.“
„Mutter!“, rief Rahjane, erhob sich halb, blieb dann aber lieber dekorativ im Kissen hängen. „Wir haben Besuch! Schau, Lorion ist zurück. Und Rondrian hat seine Würde wieder ausgeführt.“
Tsaida trat näher, musterte ihren Enkel. „Du hast in deinem Blick den Staub von Entscheidungen, Lorion. Und ein wenig mehr Schweigen als früher.“
„Ich arbeite daran“, sagte er schlicht.
Sie wandte sich Rondrian zu. „Und du, du bist wie immer. Das ist beruhigend. Und gefährlich.“
„Gefährlich charmant, wie ich hoffe“, sagte er und küsste ihr mit überraschender Galanterie die Hand.
Sie ignorierte es.
Der Tee wurde serviert, und für Rondrian eine Karaffe Wein, während das Gespräch auf Mortêc kam. Lorion erzählte, wie er sich vor einer Tribünenreihe verbeugte. Rondrian schwärmte von einem Schildträger mit professioneller Haltung, und Rahjane hörte mit großen Augen zu, als hätte sie selbst das Turnier gewonnen, im Nachhinein.
„Gibt es Neues von Iridanië?“, fragte Tsaida schließlich.
„Sie, sie schreibt“, sagte Lorion, „und sieht mehr, als ihr guttun dürfte.“
„Dann wird sie bald erkennen“, erwiderte Tsaida leise, „dass es nicht reicht, zu sehen. Man muss auch wissen, wann man die Augen schließt.“
Ein Moment der Stille senkte sich.
Dann: „Rowena hat mir einen Tee geschickt“, sagte Rahjane unvermittelt. „Für innere Harmonie. Ich hab ihn mit Honig genommen. Und mit einem Tropfen Rum.“
„Dann war’s ein Elixier der Erkenntnis“, murmelte Orban.
„Nein“, sagte sie, „aber ich hab danach sehr klar gesehen, dass du dringend neue Schuhe brauchst.“
Die Sonne sank langsam. Gespräche wurden zu Silben, Silben zu Blicken, und schließlich verließen Tsaida und Rondrian den Salon, sie schweigend, er über ein Gedicht für den Pflaumenwein nachdenkend.
Lorion blieb noch einen Moment zurück. Rahjane tippte ihm auf die Brust.
„Du hast jetzt was in dir“, sagte sie. „Ich weiß nicht, ob es Weisheit ist, oder Melancholie. Aber du siehst besser damit aus.“
„Es ist beides. Und du hast recht.“
Orban stand auf, schloss sein Buch.
„Wir sind ein seltsames Haus, Lorion. Aber vielleicht ist das die einzige Art, wie man in dieser Welt überlebt.“
„Nicht nur überlebt“, sagte Lorion. „Auch erinnert wird.“
Und draußen am Haus der Wache läutete eine Glocke.
Nachmittag des 3. Praios 1046 BF
Tsaida Tribêc verließ mit gerader Haltung den Palazzo Tribêc, der nur einen Steinwurf entfernt lag, und erreichte den vistellischen Innenhof. Der Zierbrunnen plätscherte, Dienstboten huschten mit Tabletts hin und her. Rahjane saß wie üblich auf dem Diwan, nun aber hielt sie nicht nur einen Pfirsich, sondern auch eine zerbrechliche Tasse, die sie mit theatralischer Geschicklichkeit durch die Luft drehte.
Orban blickte aus dem Salonfenster auf die Straße. Seine Augen waren still, aber hinter ihnen wirbelten Gedanken: Steuerbelastung durch die Kontribution, Spannungen mit Phecadien. Doch im Gespräch mit ihrer Mutter würde er versuchen, sie in Worte zu fassen, nicht nur mit abstrakten Begriffen, sondern mit familiärer Klarheit.
Tsaida setzte sich, faltete die Hände und sagte, ohne Blickkontakt:
„Die Kunde hat mich erreicht. Sewamund steht am Abgrund, und wir sitzen hier. Was wagt ihr zu tun?“
Orban legte das Pergament, auf dem er Begriffe wie Kontribution, Baron, Widerstand notiert hatte, zur Seite.
„Wir müssen die Menschen lehren, dass Ehre kein Dolch ist, der von vorn sticht. Wir wollen keine Rebellion, sondern Rat.“
Rahjane kicherte: „Und ich sage: wenn sie sich wehren sollen, sollen sie es mit Anmut tun. Sieh meinen Rock, er reflektiert mehr Licht als der Herzog von Grangor.“
Tsaida ließ die Hände sinken, die Augen brannten.
„Ihr unterhaltet euch mit Humor, als sei Sewamund ein Salon. Aber dort draußen zählen Stimme und Klinge. Übernehmt Verantwortung. Für eure Kinder, für die Häuser und für jene, die an euch die Furcht sehen, wenn die Steuern kommen.“
Rahjane streckte sich, erhob sich schließlich, die Bewegungen federnd.
„Mutter, ich hab alle drei im Blick. Lorion in Shenilo, Iridanië in Farsid, Rowena in Methumis. Jeder lernt gerade, wie man zurecht kommt und sich bewegt. Meinetwegen schwadronier ich über Kleider und Grazien, aber sie wachsen. Und du, du flüsterst ihnen Mut zu. Das zählt.“
Tsaida nickte langsam. „Gut. Aber das echte Leben hört nicht auf, wenn Spaß aufhört. Sagt Lorion, er möge die Lehren Rondrians ernstnehmen. Und zolle Jana meinem Gruß.“
Zwischenruf aus Shenilo
In Shenilo saßen Lorion und Rondrian dicht bei einem Lagerfeuer. Lorion faltete ein Stück Papier, auf dem er gelesen hatte: »In Sewamund wird geredet. Nicht alle hören zu. Ich will den richtigen Moment lernen.«
Rondrian warf ein Pferdehaar in die Glut: „Deine Mutter weiß mehr, als sie sagt. Deine Großmutter weiß mehr, als du merkst. Und du, du lernst aus beiden. Einsatz der Rhetorik. Einsatz der Maske. Einsatz der Feder.“
Lorion schluckte und blickte in die Flammen: „Ich will zurück. Ich will sehen, was geschieht.“
Rondrian legte die Hand auf seine Schulter: „Dann kehr zurück. Zeig ihnen, was du sein kannst. Ein Vistelli, der mehr sein darf als ein Schildträger.“
5. Praios 1046 BF
Die Sonne brannte hart auf die Straße vor dem Palazzo Vistelli. Zwischen Palazzo Tribêc und Palazzo Vistelli lag die Waatstraße, auf der der Regen des letzten Gewitters kleine Pfützen wie geschmolzenes Silber bildete. Der Duft von feuchten Ziegeln hing in der Luft.
Im Salon saßen Rahjane und Orban, an einem Tisch mit Kannen heißen Tees, Orban schwarz, Rahjane fruchtig-süß mit einem Spritzer Wein. Tsaida Tribêc trat zur Tür herein. Ihr Blick war fest wie ein Felsklotz, eine Frau, die nicht nur Glauben, sondern auch Gehorsam forderte.
Die Nachricht hatte die Runde gemacht: Der Lilienrat hatte am Morgen des 2. Praios Baron Streitebeck offiziell aufgefordert, seine Beschlüsse zurückzunehmen. Der Baron wich aus. Sewamund war im Wandel.
Tsaida sagte ohne Umschweife: „Die Tribêcs wie die Vistellis sind aufgerufen, Stellung zu beziehen. Habt ihr etwas beizutragen?“
Orban sagte vorsichtig: „Wir befürworten eure Position. Diplomatisch, respektvoll und fest.“
Rahjane lächelte, als wäre sie auf einem Ball: „Wir sind also auf Seiten derjenigen, die ihre Masken abnehmen wollen. Toll. Ich trage morgen Lila. Farbe zeigt Haltung.“
Tsaida erwiderte ernst: „Farbe schützt nicht vor Wunden. Wir müssen strategisch reden und handeln.“
Rahjane hob eine Augenbraue und blickte an die Decke: „Ich rede, wenn es sein muss.“ Sie nahm etwas Wein, drehte den Kelch und ihre Augen blitzten schelmisch.
Tsaida blickte streng, aber ließ ihren Blick mit Bewunderung über Rahjane schweifen: „Dein Humor ist gefährlich. Aber du weißt, wann er schweigen muss.“
Ein Diener brachte einen Brief mit Nachricht aus Shenilo, dass Rondrian und Lorion Kenntnis von den Geschehnissen hatten.
Rahjane lehnte sich zurück: „Und dann gibt es immer noch Shenilo. Gut. Rondrian wird sicher Pläne schmieden, während Lorion wahrscheinlich sagt, was er noch nicht sagen kann.“
Orban nickte: „Aber wir werden hier gebraucht.“
Rahjane nahm einen Schluck Tee, sah zu Tsaida: „Mama, versprich mir eines: dass du mir sagst, wenn es zu gefährlich wird.“
Tsaida nickte, ihr harter Ausdruck wurde weich.
„Das werde ich.“
Sitzung des Lilienrats am 17. Praios 1046 BF
Der Ratssaal war drapiert mit Wappen, Lilien- und Familienbannern, das Licht warf scharfe Schatten auf den langen Ratstisch. Tsaida Tribêc saß neben Rahjane Vistelli, bereit für die Bühne des Politischen.
Seneschall Drago Amarinto erhob die Stimme und brachte das Thema auf den Punkt: die Eskalation zwischen Stadtgarde und Sewakgarde, zwei Tote, eine Verwundete. Die Anspannung war greifbar. Rahjane versuchte, dem hitzigen Gespräch zu folgen:
Khardan Luntfeld: „… Für die Ordnung innerhalb der Mauern sollte die Stadtgarde zuständig sein, die dem Justiziar und nicht dem Seneschall untersteht und falls die Sewakgarde die Stadtgarde unterstützen soll, dann sollte dies auf Anfrage und unter dem Regime des Justiziars und des Stadtrats geschehen. Wir sind nicht im Krieg! Als Lilienrat sind wir die Stimme der Stadt, die ihre Interessen in diesem Rat vertritt.“
Aurelio van Kacheleen: „… Im Sinne des Handels und dem bisher vorzüglichen Rufe Sewamunds als DEM Ausweichhafen Nummer Uno … muss die wirtschaftliche Basis in keinster Weise weiter gefährden. Diese Situation muss unter Kontrolle gebracht werden. Darin sollte Einigkeit bestehen.“
Voltan Vesselbek: „… Die öffentliche Sicherheit in der Stadt muss Vorrang haben! Die Sewakgarde muss auf die Straßen und Plätze! Schluss mit dem Morden!“
Dimiona della Carenio: „Seit wann ist es Zeitverschwendung, Rechtssicherheit herzustellen? … Es muss aufgeklärt werden!“
Sturmfriede ter Beer: „Es zieht ein Sturm auf, wir müssen die Topsegel reffen und den Notanker werfen … Zusammen müssen wir als Mannschaft an einem Strang ziehen … ruhigere Gewässer erreichen.“
Rahjane Vistelli (dezent): „Das klingt logisch.“
Irion von Streitebeck (als Resümee): „… Daher schlage ich vor, die Patrouillen der Sewakgarde temporär zu genehmigen.“
Drago Amarinto: „… Wenn es dem Wohl der Stadt dient, wird die Sewakgarde selbstverständlich alles notwendige tun, was getan werden muss.“
Amaldo di Piastinza nickte zustimmend. Tsaida Tribêc gab durch ein kaum wahrnehmbares Handzeichen zu verstehen, dass die Finanzen gesichert seien.
Alfredo Continio lud die Ratsmitglieder zur späteren Einkehr: „… Ich lade alle Ratsmitglieder nach dieser Sitzung zu einem Glas Roten Linnrathers in die Goldene Gans ein.“
Rahjane Vistelli (als Antwort, gedehnt): „Warum nicht einmal Wein nach einer Sitzung? Es muss nicht immer Bier sein.“
Calvino ya Mornicala fasste schließlich zusammen: „Nun, gut. Dann haben wir einen Beschluss.“
Goldene Gans am Abend des 17. Praios 1046 BF
Das Gasthaus „Zur Goldenen Gans“ lag am Markt von Sewamund, quasi gegenüber des Magistrats. Seine Fenster waren bleich erleuchtet, über der Tür prangte eine stilisierte Gans in Goldbronze. Der Duft von Lamm mit Thymian und frisch gebackenem Mohnbrot hing warm in der Luft.
Als Alfredo Continio in weinrotem Gehrock und mit dem Charme eines Gastgebers alter Operetten die Tür öffnete, sagte er mit weitausladender Geste: „Meine Herren und Damen“. Das Nachspiel hatte begonnen.
Im Séparée der Lilienratsmitglieder wurde aufgetischt: Linsensuppe, kleine Tintenfischpastetchen aus dem Hafen und natürlich roter Linnrather, drei Karaffen.
Continio prostete mit einer Lässigkeit, als wäre es ein Siegelakt: „Möge der Wein uns den Frieden erklären, den Worte heute nur gestreift haben!“
Rahjane, ihr Glas schwenkend, sprach nicht sofort. Aber ihre Lippen bewegten sich, als wäre sie im stillen Dialog mit der Welt.
Der van Kacheleen stimmte ein Lied an, halb ironisch, halb wahr. Irgendetwas über eine Stadt, deren Schicksal im Wein liege. Sturmfriede ter Beer warf ihm irgendwann eine Nussschale an den Kopf. Alle lachten.
Irgendjemand diskutierte mit Signor Luntfeld über den Begriff der öffentlichen Autorität, bis beide plötzlich still wurden, entweder aus Einsicht oder aus Erschöpfung.
Ein Kellner reichte Rahjane ein gefaltetes Papier. Sie las es, faltete es wieder. Eine Nachricht von Orban.
Am späten Abend erhob sich Rahjane, verbeugte sich nur leicht und sagte: „Ich danke für den Wein und für das Schweigen dazwischen.“
Dann verließ sie das Séparée. Der van Kacheleen griff zur Harfe. Niemand hatte ihn darum gebeten. Signor Luntfeld seufzte und bestellte Wasser. Sturmfriede ter Beer blieb bis zuletzt und murmelte: „Der wahre Lilienrat beginnt nie in der Sitzung. Sondern, wenn der Wein aufhört zu reden.“
Daheim setzte sich Rahjane ans Schreibpult und schrieb ihren drei Kindern.
Rahjane Vistelli an ihre Kinder
An Iridanië II. Vistelli, Farsid
An meine Tochter aus Glas und Gedanken,
ich habe heute im Rat „Das klingt logisch“ gesagt und dafür Blicke geerntet, als hätte ich das Phex-Orakel zitiert. Sieh, Tochter, das ist Politik im Lieblichen Feld: Man sagt wenig, meint viel und wer versteht, schweigt.
Streitebeck ist wie eine Statue mit Kissen darunter: pompös, aber weich, wenn man es richtig drückt. Ich glaube, der Lilienrat beginnt langsam zu tanzen, aber niemand kennt die Musik. Vielleicht kannst du ein Lied schreiben, das man rückwärts verstehen muss?
Ich sah Tsaida schweigen und einen Mann mit Harfe singen, der eigentlich nur trinken wollte. Du hättest diesen Abend gemocht. Oder analysiert. Oder beides.
Dein Vater sagt, du bist der Spiegel, den man nur sieht, wenn man hineinschaut. Ich glaube, du bist der Rahmen, den alle übersehen, bis das Bild wackelt.
Denk daran, was du neulich schriebst: „Die Wahrheit wohnt in der Pause zwischen zwei höfischen Lügen.“ Ich glaube, du hast recht. Ich habe heute genau in so einer Pause gelebt.
Schreib mir, wenn du zwischen deinen Masken wieder Luft hast.
Deine
Rahjane
An Rowena Vistelli, Methumis
Rowi, meine klügste Salbe gegen Verdruss,
heute habe ich mich politisch betätigt. Also, ich habe Wein getrunken, während kluge Leute mit Bart und ohne kluge Haarspaltereien über Stadtwache, Garde und Justiz betrieben. Und ja, ich sagte: „Warum nicht einmal Wein?“ Und sie hielten mich für brillant.
Ich beginne zu glauben, dass dein Vater mir die Stirnfalten schreibt und Tsaida sie korrigiert. Vielleicht bin ich bloß die Schleife um einen Gedanken, den andere nicht aussprechen können. Aber Schleifen halten zusammen.
Du wärst stolz gewesen, Rowi. Ich hab nicht einmal meine Fächer geworfen, sondern nur meinen Blick. Der traf besser. Und später, in der Goldenen Gans, lag eine elegante Drohung im Raum. Es gab Lamm mit Thymian, Streit mit Rosenwasser und einen Sänger mit Harfe, der kein Lied kannte.
Deine Großmutter sagt, ich sei gefährlich, wenn ich schweige. Ich glaube, ich bin gefährlicher, wenn ich zuhöre. Was ich dir sagen will: Lerne zuhören. Dann heilst du nicht nur Körper, sondern auch Augenblicke.
In Liebe, mit leichtem Hang zur Dramaturgie
Mama
An Lorion Vistelli, Shenilo
Mein Herzbube mit rostigem Humor,
heute habe ich Politik gemacht. Du weißt schon, das mit der Ratssitzung und den todernsten Gesichtern, die denken, sie könnten Städte mit Grammatik regieren.
Ich hab gesagt: „Das klingt logisch.“ Und man hätte schwören können, ich hätte den Krieg erklärt. Irgendwer hat sich danach verbeugt. Ich bin mir nicht sicher, ob er’s ernst meinte.
Danach gab es Roten Linnrather, Harfenspieler und zu viele Meinungen für ein Gasthaus.
Ich denke oft an dich, mein Rüstungsknirps. Du wärst der einzige gewesen, der bei dem Abend mit einem Augenzwinkern durchgekommen wäre.
Denk daran: Es gibt Momente, da muss man wie Streitebeck sein: edel, unbeweglich, leer. Aber besser ist es, wie Rondrian zu sein: laut, falsch gekleidet, aber mit einem Kern aus Gold.
Ich hab übrigens eine Wette laufen, dass du den nächsten Gardelehrgang nicht versaust. Wenn du gewinnst, bekommst du ein neues Hemd. Wenn du verlierst, schick ich dir eines in Rosa. Mit Rüschen.
Schreib mir, wenn du einen Gegner mit Worten statt mit Stiefeln zu Fall bringst. Dann weiß ich, du wirst ein Mann.
In schamloser Mutterliebe,
Rahjane
Antworten der Kinder
Antwort von Iridanië Vistelli, Farsid, Anfang Rondra 1046 BF
An meine Mutter, die unter Masken leuchtet,
dein Brief roch nach Lilien und politischen Manövern. Beides macht mich misstrauisch, aber beides zieht mich an.
Ich lese zwischen deinen Worten, wie du es von mir erwartest: Du hast nichts gesagt und doch viel getan. Ich beneide dich nicht um die Männer mit ihren Kragenspiegeln und ihrer Einbildung, aber ich bewundere, wie du tanzt, ohne den Boden zu verlieren.
Die Sitzung in Sewamund ist hier schon durch die Salons gewandert, jedes Mal mit anderen Zwischenrufen, die es nie gab. Ich habe den wahren Wortlaut rekonstruiert, anhand von Stil und Syntax. Ja, Mutter. Ich habe deinen Tonfall analysiert. Du hast „das klingt logisch“ gesagt, wie andere „zieh dich aus“ flüstern.
Mein Buchzirkel, wie du ihn nennst, ist inzwischen ein kleiner Kreis mit zu vielen Zungen und zu wenigen Gewissheiten. Wir lesen derzeit das „Dritte Traktat der Stummen Redner“. Du würdest es hassen.
Ich hatte übrigens einen Disput mit einem Schreiber des herzoglichen Archivs. Er nannte meine Quellen zu weiblich. Ich nannte seinen Stil zu vorsichtig. Seither verbeugt er sich tiefer.
Ich schreibe, weil ich weiß: Es ist nicht die Wahrheit, die uns hält, sondern die Art, wie wir lächeln.
Grüße an Vater. Und Tsaida. Ich träume von ihrer Stimme manchmal.
In Dankbarkeit, die nicht laut sein muss,
Iridanië
Antwort von Rowena Vistelli, Methumis, Mitte Rondra 1046 BF
Liebste Mama,
ich habe deinen Brief mit größtem Genuss gelesen. Noch nie war politische Zurückhaltung so schön formuliert. Schwester Noridia meinte, du hättest besser geschwiegen, aber ich finde, du hast genau das gesagt, was man erinnern wird.
Ich trage derzeit eine Schnittwunde am rechten Handrücken – nicht schlimm, nur der Preis dafür, dass ich versuchte, einer störrischen Patientin während der Salbenausgabe die Wahrheit über ihre Eitelkeit zu sagen. Kurz: Die Kräuter waren schuld.
Meine Mentorin glaubt, ich sei zu ehrlich. Ich glaube, ich bin zu geduldig. Vielleicht braucht man beides.
Übrigens: Ein junger Peraine-Novize hat mir gestern ein Lied auf dem Laute vorgespielt. Es war schief, aber nett. Ich bin nicht errötet. Habe nur ein bisschen gelächelt. Und nein, noch kein Antrag. (Nicht, dass ich einen wollte.)
Ich habe begonnen, eigene Rezepte niederzuschreiben. Mein erstes Kapitel heißt: „Wunden, die man nicht sieht“.
Ich werde dich bald besuchen. Und deine Art zu schweigen mit Tee vergleichen.
Mit Liebe und einem Hauch Kamille,
Rowena
Antwort von Lorion Vistelli, Shenilo, Rondra 1046 BF
Mama,
du hast Politik gemacht. Ich bin so stolz, ich könnte einen Rondrakamm weinen. Und ja, ich habe gehört, dass du „Warum nicht Wein?“ gesagt hast. Das war das Klügste, was jemand in einem Ratssaal je gesagt hat, seit Rondrian mal „Wie war noch gleich der Feindname?“ fragte.
Apropos: Rondrian lässt grüßen. Er sagt, er habe das Gefühl, du würdest in Ratssälen besser fechten als er auf Turnierplätzen. Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment ist oder eine Entschuldigung für seine letzte Parade.
Ich habe übrigens einen Aufsatz geschrieben. Thema: „Rüstung als soziale Maske am Beispiel einer krachenden Hüftplatte.“ Jana hat ihn korrigiert. Sie schrieb nur: „Erstaunlich viel Subtext für so wenig Bosparano.“
Ich überlege, ob ich im Spätsommer nach Sewamund reiten soll. Oder weiter bleibe. Oder mich heimlich bewerbe, irgendwo.
Ach ja, ich übe derzeit mit einem Gardisten aus Zorgan. Er kann mit einem Säbel tanzen. Ich versuche, nicht neidisch zu sein. Aber er hat Hüften wie eine Ballettdame.
Sag Rowi, ich will einen Brief. Und Iridanië, sie soll aufhören, Worte zu lieben, die niemand aussprechen kann.
Und du? Schreib bald wieder. Ich brauch’s.
In Frechheit und Liebe,
Lorion
Sewamund, Palazzo Vistelli, Rondra 1046 BF, früher Abend
Die Luft war voller Gewitter, obwohl der Himmel klar war. Über der See hing eine flimmernde Unruhe, die die Möwen schweigen ließ und die Schatten länger machte, als sie sein sollten.
Im Palazzo Vistelli war es still. Das Zitronenbäumchen aus Belhanka trug drei Früchte.
Orban saß allein unter dem Bogenfenster des Speisesaals, das zum Hof hinausging. Vor ihm: ein versiegelter Brief aus Shenilo, mit Rahjanes unverkennbarer kreisender Schrift. Er hatte ihn noch nicht geöffnet.
Ein Teller mit kaltem Linsengericht stand unberührt daneben.
Dann leise Schritte auf Stein.
Fenja, das Küchenmädchen, trat zögernd aus dem Seitenflur. Sie war rundlich, mit flachsblondem Haar, das immer zu entkommen schien, egal wie oft man es zu bändigen versuchte. Sie trug ein abgewetztes Leinenkleid, die Schürze voller Mehlspuren, und in der Hand eine kleine Tonkanne.
„Ich, ich dachte, Ihr wollt vielleicht Tee, Signor Orban“, sagte sie leise, ohne ihn anzusehen. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch.
Orban blickte auf. Erst auf die Kanne, dann auf sie. Er war nicht überrascht, aber es dauerte, bis er sprach.
„Fenja. Du hast ein Talent dafür, rechtzeitig am rechten Ort zu sein.“
Sie zuckte zusammen, ein wenig verlegen, ein wenig stolz. „Ich hab nur, die Kanne stand schon warm. Ich dachte...“
Er lächelte kaum merklich. „Du dachtest richtig.“
Er streckte die Hand aus, nahm die Kanne, ohne Eile. „Setz dich.“
Fenja blinzelte. „Ich, hier?“
„Ja. Es sind Stühle. Und du bist ein Mensch. Beides ist selten genug in Sewamund dieser Tage.“
Zögernd setzte sie sich auf die steinerne Bank gegenüber, ließ die Hände im Schoß ruhen. Ihre Augen glitten zu dem versiegelten Brief.
Orban folgte ihrem Blick.
„Rahjane schreibt aus Shenilo. Sie ist nicht allein. Die Stadt ist wach geworden.“
„Wegen dem, dem Hilfeersuch?“, fragte sie vorsichtig.
Er nickte. „Ja. Es riecht nach Umbruch.“
Fenja schwieg. Dann, leise: „Ich hab Angst, Signor Orban.“
Er sah sie zum ersten Mal direkt an.
„Ich auch, Fenja.“
Ein Moment Stille. Nur der Wind bewegte sich.
Dann reichte er ihr die erste Tasse Tee. „Für den Mut“, sagte er.
Sie nahm sie mit beiden Händen, als wäre sie ein Schatz.
„Was passiert jetzt?“, flüsterte sie.
Orban lehnte sich zurück. „Jetzt warten wir. Hören. Und bereiten vor, was kommen mag. Nicht mit Schwertern. Mit Gedanken.“
Fenja sah ihn an, mit einer Mischung aus Bewunderung und Sorge. „Und wenn Gedanken nicht reichen?“
Er schloss die Augen für einen Moment. Dann sagte er:
„Dann werden wir hoffen, dass Worte schneller heilen als Klingen schneiden.“
Die beiden saßen lange schweigend beieinander. Zwei Silhouetten in einem Hof voller Schatten.
Sewamund, Palast Vistelli, Anfang Efferd 1046 BF
Es war jener seltene Morgen, an dem die See ganz still lag, als hielte selbst das Wasser den Atem an.
Rahjane Vistelli trat barfuß auf die Terrasse ihres Salons hinaus, das Haar lose, ein Brokatüberwurf nur lose über das Nachthemd geworfen. In der einen Hand eine dampfende Tasse Kaffee mit Mandelmilch, in der anderen einen Brief aus Vinsalt, dessen Siegel sie noch nicht geöffnet hatte.
Sie trat bis an die Balustrade. Jenseits der Waatstraße lag der Palazzo Tribêc, in dem ihre Mutter Tsaida längst wach war. Manchmal, so dachte Rahjane, war es beruhigend, wenn jemand früh morgens bereits an Götter dachte, solange man selbst nicht musste.
Die Stadt war still, aber nicht friedlich. Die Rufe nach Ordnung, Kontrolle, nach Führung klangen selbst durch das Schweigen der Gassen. Das Seeviertel roch seit Tagen nach Algen und Gerüchten. Der Handel stockte. Und die Patrouillen wirkten zu höflich.
Sie spürte es. Wie etwas heranwuchs. Wie eine Prüfung sich näherte.
„Tsa schenkt uns Wandel“, hatte Tsaida vor zwei Tagen beim Essen gesagt, „aber Wandel ist kein Spiel. Sondern Geburt.“
„Manche Geburten brauchen Saugglocken“, hatte Rahjane geantwortet und dabei in eine Aprikosenpastete gebissen.
Jetzt aber las sie die Zeilen, die Orban ihr beim Frühstück übergeben hatte, ein Bericht des Kastellans über Sichtungen fremder Reiter am westlichen Stadtrand. Ohne Wappen, aber gut gerüstet. „Durchreisende“, so hieß es. Aber Sewamund war nie der direkte Weg.
Sie runzelte die Stirn. Zwei Falten nur, so viele erlaubte sie sich morgens. Mehr machten müde.
Dann trat sie zurück, nahm Papier und Feder und schrieb, ohne lange zu überlegen:
„An Tsaida Tribêc, Palazzo gegenüber.
Heute um die elfte Stunde. Tee, zwei Stühle, eine offene Frage.
Und bitte keine Tsa-Gleichnisse vor dem ersten Gebäck.
Deine Tochter, die nichts glaubt, aber alles spürt.
R.“
Sie faltete den Zettel, versiegelte ihn nicht, sondern rief nach dem Küchenmädchen Fenja. „Lauf ihn rüber. Sag, ich brauch sie vor der nächsten politischen Bauchlandung.“
Als das Mädchen fort war, seufzte sie leise.
Dann, als wäre es ihr nachträglich eingefallen, murmelte sie:
„Ich hab das Gefühl, der Drache ist wach.
Ich frag mich nur, wer ihn geweckt hat.“
Der Blick aus dem Palazzo Vistelli, Nacht des 4. Travia 1046 BF
Orban saß im Studierzimmer im oberen Stock, das Fenster offen. In der Ferne konnte er ein Glimmen am Nachthimmel sehen. Unten auf der Straße waren Reiter abgereist, in Eile, in Stille. Und mit ihnen auch ein Teil der alten Ordnung.
Amarinto brannte. Es befand sich sicher schon in der Hand des Barons.
„Sie marschieren immer weiter“, sagte Orban leise, mehr zu sich selbst als zum Schatten seines Schreibtischs.
Der Brief von Rahjane lag geöffnet vor ihm. Ihr Ton höflich, ihre Worte wachsam.
Er nahm eine Glaslinse zur Hand, betrachtete die letzte Zeile erneut:
„Ich fürchte, der Drache schläft nicht mehr.“
Er murmelte: „Und wer sind wir in seinem Traum?“
Dann ging er hinab. Der Zitronenbaum hatte eine vierte Frucht getragen. Bitter und schön.