Archiv:Brand der Sewamunder Windmühle (BB 46)

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Brand der Sewamunder Windmühle
Geron Einhand vom Sewamunder Seewind dem Bosparanischen Blatt zum Jubiläum

Es ist zum ersten Mal, dass ich meine Memoiren schreibe, mir mangelt die Übung und ich weiß nicht, ob ich's richtig mache. Immer wenn ich eine Begegnung oder eine Begebenheit erwähne, greife ich nicht nur zurück, sondern auch vor. So kennt mich der Leser bereits in Situationen, die mir noch nicht zukommen. Bin ich doch erst am Beginn meiner Schreibertätigkeit.
In der Schreiberlingrunde auf dem Sewamunder Markt war man unzufrieden, weil der Seewind als Nachfolger des Herrn Tamarisco, der mit den rangältesten Seeoffizieren die Schulbank gedrückt hatte, einen so jungen Hund wie mich entsandte. Für den Seewind war ich nur irgendein Schreiberling.
Und die Tatsache, dass meinen Anfängen ein sogenannter Erfolg beschieden war, vollzog sich unter Umständen, welche die anderen Leute des Seewinds nicht für mich einnehmen konnten. Meine erste Notiz schilderte meinen Besuch am Krankenbett eines Freundes, der vor Jahresfrist in einem Duell einen Scholaren getötet hatte und selbst lebensgefährlich verletzt worden war. Neben ihm im Spital lag ein Gaukler, der, gleichfalls lange vor meinem Berufsantritt, vom fliegenden Trapez ins Publikum gestürzt war. Der andere Bettnachbar, ein Knabe, war an einem Winterabend vor der Villa des alten Webermeisters Filotrin von dessen Wachhunden überfallen und gebissen worden.
Jede dieser drei Begebenheiten war zu ihrer Zeit in den Gazetten zu Tode gehetzt worden und es waren demnach „olle Kamellen“, die ich zu einer Notiz zusammenschweißte. Aber das Bosparanische Blatt druckte sie nach.
Seit langem war es das erste Mal, dass etwas aus einem Sewamunder Blatt Gnade fand vor der Schere des allwissenden und unfehlbaren Gerillian von Torrem in Vinsalt. („Torrems Schere reimt sich auf Ehre“, pflegte der oberste Editor des Bosparan Herold selbstgefällig zu reimen, wenn das Bosparanische Blatt einmal das gleiche ausgeschnitten hatte wie er.)
Die Zitierung unserer Gazette hätte demnach so empfunden werden müssen, als sei der ganze Schreiberstab auf der Titelseite zitiert. Wenn nur die dekorierte Leistung nicht gerade vom jüngsten jungen Mann, dem Hintergassenschreiber, vollbracht worden wäre, und dieser Lobspruch nicht wie ein Tadel für die übrigen geklungen hätte. „Im Sewamunder Seewind“, so leitete der oberste Richter in Vinsalt den Abdruck ein, „findet sich nachstehende, ungewöhnlich gut geschriebene Notiz …“
Meine neue Arbeit schien mir kinderleicht zu sein. Ich hatte bei der Garde und auf dem Marktplatz Nachrichten zu holen und sie zu stilisieren. Je mehr ich sie durch plaudernde Wendungen ausschmückte, desto mehr hatten sie Anspruch, als Schmucknotizen gewertet zu werden, die man zwar Schmocknotizen nannte, aber immerhin – wie man gesehen hat – eher einen anerkennenden Nachdruck fanden als ein simpel berichtetes Faktum.
So machte ich meine Arbeit bis zu der Nacht, in der ich mich zum erstenmal an einem Schauplatz erproben sollte. Die Sewamunder Windmühle stand in Flammen. Ich rannte hin. Das Feuer war im Begriff, das ganze Gebäude samt Anbau, ein Wahrzeichen der Stadt seit urdenklichen Zeiten, in Schutt und Asche zu verwandeln. Und, was weit schlimmer war, die anderen Schreiber waren schon da und mitten in der eifrigsten Arbeit.
Auf einem Leiterwagen unter einer Laterne, alles überblickend und allen sichtbar, saß Papa Sewamunder. Er schrieb und schrieb. Gardisten und Freiwillige liefen auf ihn zu, gaben ihm Informationen und eilten wieder davon. Von Zeit zu Zeit erschienen Laufboten seiner Gazette. Papa Sewamunder reichte ihnen Manuskript und schrieb weiter.
Ich aber, ich wusste nichts zu schreiben. Keine Zeile verstand ich von dieser Belagerung der Handpumpen und Eimer, von diesem Kreuzfeuer aus Wasserstrahlen, von diesem Manövrieren der Leute. Ich drängte mich durch den Kordon, es dauerte lange, bevor ich den ganzen Bezirk der brennenden Mühle abgegangen hatte, um irgendwie irgendwo irgend etwas zu eruieren. Kein Wort eruierte ich.
Mir blieb nichts übrig als, ein demütiger Bittsteller, mich den Stufen des bronzenen Thrones zu nahen, auf dem Papa Sewamunder waltete. Er neigte sich zu mir herab, ich reckte mich hoch, spitzte Zehen und Ohren, um keinen Ton von der Sensation zu verlieren, die er mir anvertrauen wollte. Aber was er mir zuflüsterte, war dieses: „Es brennt.“
Meine Verzweiflung zwang mich, den Hohn zu überhören. Ich bat ihn, mir doch ein paar Details zu geben. Er wies auf die Flammen: sähe ich da nicht Details genug?
Nein, ich sah keine Details. Ich sah nur die Flammen, die beschäftigten Helfer und meine noch beschäftigteren Kollegen. Wie ein Eimerträger schlängelte sich der bleiche Acosto zwischen den Löschpumpen und Wasserstrahlen, überall war er gleichzeitig. Er maß mich mit Siegermiene: „Nun, Schönschwätzer, zeig jetzt, was du kannst.“
Am Fuß des Leiterwagens traf sich die Gruppe einiger Schreiber und tauschte Informationen aus. Ich pirschte mich heran, etwas zu erlauschen. Sie bemerkten mich und verstummten, einige lachten. Der bleiche Acosto bekam geradezu Lachkrämpfe.
Sie konnten lachen, ich konnte weinen.
Entschlossen arbeitete ich mich zum Gardekommandanten durch. Aber als ich vor ihm stand, fiel mir ein: ich weiß nicht einmal, was ich ihn fragen soll. Schöner Schreiber, der nicht einmal weiß, was er fragen soll.
Ich fragte nach der Ursache des Feuers.
„Noch nichts festgestellt.“
So wie bei mir. Nichts hatte ich festgestellt, leer war mein Notizblock. Tränen vermochten meine Beschämung nicht zu löschen. Selbst wenn ein Wasserelementar in meinen Augen erschienen wäre, hätte er es nicht vermocht, meine Beschämung zu löschen. Nie, nie hätte ich mir eine derartige Unfähigkeit zugemutet. Schluss mit meinem Versuch, das Mühlenfeuer zu beschreiben! Schluss mit der Schreiberei!
Erhaben, auf strahlendem bronzenen Siegeswagen, umgeben von behelmten Mannen fährt der Berufene in die Ruhmeshalle der Schreiberei ein … und unten schleicht geduckt und gedemütigt einer davon, der vieles unternehmen wollte und nichts gekonnt.
Durch die Masse der Neugierigen, finstere, nächtliche Gestalten, zwängte ich mich immer weiter nach hinten. Nur weg von hier!
Wohin? Auf keinen Fall in die Gazette zurück. Wozu mir dort das Toben anhören, weil ich nichts bringe, wozu mich noch beschimpfen lassen, bevor ich entlassen werde?
Allerdings, fair ist es nicht, die anderen einfach sitzen zu lassen. Mutiger wär's, hinzugehen und mein Fiasko einzugestehen.
Langsam ging ich durch die Straßen. Was wird man auf dem Marktplatz sagen? Mir fielen die Anekdoten ein, mit denen man sich dort selbstgefällig unterhielt, die Anekdoten von unfähigen Schreibern.
Ein aus der Provinz engagierter Schreiber war zur Erhebung eines Vorfalls nach Peripheria geschickt worden. Er recherchierte alles genau – aber er fand nicht zur Druckerei zurück, dieser findige Held. Hahaha!
Einer wurde zur Hochzeit des berühmten Gauklers M. entsandt. Er kam zurück und schrieb nichts. „Wo ist der Bericht über die Hochzeit?“ fragte man ihn. „Es gibt keinen. Der Bräutigam kam nicht, die Gäste warteten vergebens, die Hochzeit fand nicht statt. Also kann ich doch nichts schreiben.“ Hahahaha!
Das ist noch gar nichts! Beim größten Brand unserer Zeit, als die Sewamunder Windmühle niederbrannte, war ein Schreiber dabei – Einhand hieß er –, der wusste nicht eine Zeile zu berichten. Hahahahaha!
So geht mein Name in die Geschichte ein!
„Praios sei Dank, du bist da“, empfing mich der Nachtdiener schon auf dem Treppenflur, „ich hab dir anderthalb Spalten reserviert. Schreib schnell, damit wir recht viel davon noch in die nächste Auflage bekommen!“ Und so rasch wie es ihm seine siebzig Jahre erlaubten, humpelte er in den Editiersaal.
Anderthalb Spalten – das waren hundertfünfzig Zeilen! Ich hatte nicht einmal eine. Oder doch, eine hatte ich: den Titel. „Brand der Sewamunder Windmühle.“ Der stand fest. Unter ihm klaffte leere Öde … hundertfünfzig Zeilen tief.
Da gab's keine Wahl, ich musste mich hinablassen in die öde Leere. Ich schrieb … schrieb von den Flammen und wieder von den Flammen … ich ließ sie lodern, leuchten, züngeln, prasseln, aufflackern … das Gebälk ließ ich knistern, krachen, bersten … die Mehlsäcke ließ ich glimmen und platzen und qualmen und dampfen und rauchen … das Wasser ließ ich schlagen wie Keulen und niedersausen wie ein Kriegsbeil … und all das zusammen, all das zusammen ergab erst zwanzig Zeilen.
Der Setzer riss sie mir aus der Hand. „Schnell, schnell den Rest“, schärfte er mir ein und war verschwunden.
Den Rest! Den Rest gab's nicht, obwohl noch hundertdreißig Zeilen dafür freigehalten waren, der Setzer, der Editor, der Nachtdiener auf sie warteten.
Ich lutschte an meinem Stift. Entlutschte ihm, dass das Haus der Deicharbeiter in der Nähe der Windmühle lag. Mein Stift trieb eine Gruppe von Arbeitern zum Brandplatz. Mein Stift sah, wie sie fasziniert sich gegen den Feuerherd vorschoben, mein Stift half ihnen, sich dem Kordon der Gardisten zu nähern, denen sie sonst eilig und in weitem Bogen auszuweichen pflegen. Die Garde, von dichtem Dunkel umgeben, sah nicht, was mein Stift sah, sah nicht, welcher Art die sich heranwälzende Menge war. Nur wenn eine Feuergarbe ihr grelles Licht anstatt zum Himmel aufwärts seitlich warf, wurden die Gestalten sichtbar, die der Wasserwelt entstiegen schienen, aber in Wirklichkeit meinem Stift entstiegen: Deicharbeiter mit gegerbten Gesichtern, wirren Bärten, struppigen Haaren und starr auf das Feuertheater gerichteten Augen.
Mein Stift – weit stärker beobachtend als sein Herr – beobachtete in einem solchen Moment flammender Beleuchtung, wie ein Gardist und ein vierschrötiger Riese einander gegenüberstanden. Wahrscheinlich kennt der Gardist den Mann, vielleicht ist es ein Gewalttäter, der ihm bei der Verhaftung Widerstand geleistet hat und entkommen war. Oder vielleicht war der Gewalttäter nicht entkommen und hat dem Gardisten Rache geschworen, der jetzt in seiner Reichweite steht. Gleich wird der Flammenkegel wieder dem Dunkel Platz machen, einem undurchdringlichen Dunkel gefährlicher Gelegenheit. Solcherlei schrieb und beschrieb mein Stift, bis ihn die hundertfünfzigste Zeile stoppte.
Sonst pflegte ich, wenn ich eine größere Notiz geschrieben hatte, in die Editierhalle hinüberzugehen, um dort angeblich den finalisierten Text zu korrigieren, eigentlich aber, um von den anderen ein Urteil über mein Produkt zu hören.
Diesmal verließ ich die Gazette ohne das. Nichts wollte ich wissen, am meisten befürchtete ich, man könnte mein Verlegenheitsgefasel loben. Dass ich einen „Bericht“ zusammengebracht, änderte kein Jota daran, dass er nicht einmal enthielt, wie der Brand verlaufen war und was sich an Zwischenfällen zugetragen. Wahrscheinlich hatte es sogar Tote und Verletzte gegeben.
Der Entschluss, meine Kündigung zu geben, war ebenso wie die Möglichkeit, entlassen zu werden, noch da.
Am nächsten Morgen sah ich in unserem Blatt meine Phantasien noch vergröbert. Der Nachtdiener hatte meinen Titel geändert. Mit Riesenbuchstaben, die mir wie brennende Balken vorkamen, spannten sich die Worte „Ansturm von Deicharbeitern bei einer Feuersbrunst“ über die Spalten.
Was die anderen Schreiber gestern auf dem Brandplatz erfahren hatten, erfuhr ich später aus ihren Blättern. Sie hatten alle Details erhoben, die mir verschlossen geblieben waren. Zumeist allerdings waren diese Details von der Art, die man in der Zunft als „interessant aber langweilig“ charakterisierte: Nach einigen Berichten war das Feuer zur achten und einer Viertelstunde abends von einer in der Nähe wohnenden Metzgerin bemerkt worden, nach anderen Berichten Schlag Neun von einem zufällig des Weges kommenden Bauern aus Südphecadien. Laut Bosparan Herold war es die Freiwilligenmannschaft der Neustadt, die mit dem Löschmeister Soundso und zwei dreispännigen Wasserpumpen zuerst an der Brandstelle eintraf; dem Odilshuser Ortsanzeiger zufolge aber war die Gruppe aus der Falkenstraße mit ihrer neuen verbesserten Leiter als erste zur Stelle gewesen. Übereinstimmend war mir die Feststellung, dass in kurzen Intervallen alle Helfer und Gardisten auf der Brandstätte eintrafen. In den meisten Gazetten stand, der Brand sei auf dem ebenerdigen Schüttboden ausgebrochen, der bleiche Acosto hatte jedoch erhoben, dass das Feuer im oberen Stockwerk mehr als eine Stunde lang gewütet und erst nachher den Raum darunter ergriffen habe.
Als ich in die Gazette kam, standen im Vorzimmer, das in der Frühstücksstunde eine Art Treffpunkt war, einige Schreiber beisammen.
„Dieses Gedränge der Deicharbeiter“, sprach mich der Kur- und Kulturschreiber an, „das muss ja wie ein Schlachtengemälde gewesen sein. Ich habe den Bericht interessiert gelesen.“
„Er hat ja nichts weiter aufgeschrieben, als was er gesehen hat“, sagte Doktor Trebenfurt.
Vielleicht um den geringschätzigen Ton Doktor Trebenfurts abzuschwächen, wandte der Kur- und Kulturkritiker ein, ich hätte immerhin gut beobachtet.
„Eben nur beobachtet. Was hätte ein Dichter daraus gemacht! Eine Ingalfsweih im Feuerschein! Gardisten und Briganten stehen einander unvermutet gegenüber! Aber dieser junge Mann merkte gar nicht, dass er eine Dramenszene in Händen hielt. Nun, schließlich ist das auch nicht seines Amtes.“
Ich hatte gute Lust, ihm zu enthüllen, dass ich den Stoff sehr wohl zu würdigen wisse, denn er entstamme meiner Phantasie. Jedoch dann hätte Doktor Trebenfurt nur wiederholt, und die anderen hätten ihm beigestimmt, dass das nicht meines Amtes sei.
Ehe der Tag zu Ende ging, an dem mich Doktor Trebenfurt den Unwert der Wahrheit fühlen ließ, bekam ich eine Lektion über den Wert der Unwahrheit.
„Ich habe dir anzukündigen, dass du aus der Zunft ausgeschlossen wirst, wenn du noch einmal in dieser Art schreibst“, empfing mich Papa Sewamunder, als ich abends auf den Marktplatz kam.
„In welcher Art habe ich denn geschrieben?“
„In der Art eines Lügners“, brach er los. „Lauter unverschämte Lügen! Du wirst eine gesalzene Berichtigung vom Sprecher der Deicharbeiter bekommen – der Nachtwächter notiert penibel, wer das Haus der Deicharbeiter verlässt, weil es sonst abgesperrt ist, und jeder beim Eintritt seinen Namen nennen muss.“
„Ich habe nicht geschrieben, dass es die Bewohner des Hauses der Deicharbeiter waren. Ich habe nur von Deicharbeitern im Allgemeinen gesprochen, die Nähe zu diesem Haus habe ich erwähnt, ohne zu sagen, dass die Leute von dort kamen.“
Über diesen Trick wurde Papa Sewamunder noch wilder. Er hatte nämlich von den Deicharbeitern ein Dementi meines Berichts verlangt, aber den Bescheid erhalten, dass infolge der Stilisierung nichts dagegen unternommen werden könne. Warum hatte Papa Sewamunder das getan? Er verheimlichte es nicht.
„Mit deinen Lügen bringst du uns um die Existenz. Heute morgen schnauzt mich mein Vorgesetzter an, wieso ich die Deicharbeiterinvasion auf der Brandstätte nicht einmal mit einem einzigen Wort erwähnt habe.“
„Du kannst ihm doch sagen, Herr Sewamunder, dass das erfunden ist.“
„Ich verbitte mir solche Ratschläge.“
Kollege Acosto mischte sich ein: „Wenn man diesen Spielschreibern sagt, dass ein Konkurrent lügt, so glauben sie, das sei eine Ausrede.“
Papa Sewamunder bestätigte das, indem er beide Fäuste auf den Tisch schlug; sein Vorgesetzter habe ihm wörtlich gesagt: „Komisch, dass sich die anderen immer die interessantesten Lügen ausdenken, und du immer nur die langweiligste Wahrheit weißt.“ Papa Sewamunder fiel aus der Höhe der Wut in die Tiefe der Bitterkeit: „Das muss ich mir sagen lassen im dreißigsten Jahr meiner Tätigkeit.“
„Wegen eines solchen Rotzbengels“, sagte Ritter Wuk von Garlan, nur um nicht unhöflich zu erscheinen.
„Was sollte ich denn machen?“, wandte ich ein, „ich hatte doch überhaupt keine Details. Als ich dich bat, Herr Sewamunder, mir etwas zu sagen, hast du geantwortet: es brennt.“ Diese höhnische Antwort von Papa Sewamunder wurde stillschweigend missbilligt.
Fromm und milde riet mir Frau Aldiga Zwibêc, mich immerdar nach dem Glauben zu richten: „Du sollst nicht lügen, das gebietet Praios, und wenn du dir schon so eine faustdicke Lüge ausdenkst, so musst du es uns sagen, damit wir sie auch bringen können und nicht dastehen wie die Toren.“
Auf dem Marktplatz erschien an diesem Abend Herr ter Beer statt des bleichen Acosto, der vom Bosparan Herold seines Postens enthoben worden war.
Was war das alles?
Solange ich Besprechungen und Schmucknotizen verfasste, war ich nie ratlos gewesen, hatte nie, selbst wenn ich vom Thema wenig verstand, einen Bericht aus der Luft gegriffen, und nie die Stellung eines Kollegen gefährdet.
Offenbar ist die direkte Beschreibung der Wirklichkeit weit schwieriger. Kein Rezensent wird bei der Besprechung eines Buches, einer Aufführung oder einer Ausstellung jemals von solch einem Gefühl beruflicher Ohnmacht befallen werden wie ich gestern im Schein des Mühlenfeuers. Und dennoch behandeln die Schreiber der Kulturteile den Straßenschreiber als etwas Untergeordnetes, wie einen, der in den Beinen haben muss, was er nicht im Kopf hat.
Ein paar Tage vorher war ich dem künstlerlockigen Kur- und Kulturschreiber, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, in den Weg gelaufen. Er sprach mir sein Missfallen darüber aus, dass ich Schreiber geworden. „Ich hatte anderes mit dir im Sinn“, sagte er, „ich wollte dir einen Namen machen.“
Auch Doktor Trebenfurt fand das verächtlich, was meines Amtes war. Gewiss, er war konsequent. In seinen Besprechungen anerkannte er als Kunst nur das Übersprudelnd-Launische, das Traumhaft-Zerfließende, das Ungebunden-Absurde, das Sprunghaft-Unlogische oder das Irrational-Mystische. Streng lehnte er den „phantasielosen Konkretismus und öden Materialismus der schnell veralteten methumischen Schule“ ab, worunter er da Hyraca, di Fruganza und vollends Callistus ya Malachis verstand. Dem Doktor Trebenfurt, der meinen unseligen Lyrikband seinerzeit eine kritische Ermunterung gegeben, konnte die Deicharbeiterszene nicht gefallen, weil er sie für Realität hielt.
Aber die Vorgesetzten, Schreiber an verantwortlicher Stelle, mussten sie nicht Realität schätzen? So wirkungsvoll formuliert die Antithese war, die der Chef des Papa Sewamunder gebraucht – durfte er eine Lüge fordern, weil sie interessant war? Durfte er sie einer Wahrheit vorziehen und wäre es der sterbenslangweiligsten?
Diese Fragen waren beileibe keine rhetorischen, es gab Antworten auf sie.
Manche Herausgeber, der große Gerillian von Torrem zum Beispiel, haben eingestanden, dass Gazetten, ob sie nun dem Geschäft oder der Verbreitung einer Gesinnung dienen, eine ihre Ziele begünstigende Unwahrheit vorziehen müssen einer Wahrheit, die ihren Zielen zuwiderläuft. Ein Spötter tat gar den Ausspruch: „Eine falsche Nachricht ist mir die liebste, denn erstens hat man sie allein, und zweitens bekommt man eine Berichtigung, die man wieder allein hat.“
Die Begründung ist falsch, denn nichts wird so prompt, so gründlich und so energisch dementiert wie gerade die Wahrheit. Um so mehr kann diesen Grundsatz des Spötters auch ein Gazettenherausgeber akzeptieren, der keine Berichtigungen wünscht.
Und der Leser? Welche Wichtigkeit hat es für ihn, zu erfahren, ob der zweite oder erst der vierte Bolzen des Mörders tödlich war? Dass beim letzten Orkensturm nicht fünftausend, sondern nur fünfhundert Mittelreicher fielen? Dass sich das Feuer in der Windmühle nicht auf dem Schüttboden ausbreitete, sondern zunächst im Obergeschoss?
Der Stein der Wahrheit, der nur um hohen Preis zu erwerben ist, ist von seiner billigen Imitation nicht zu unterscheiden. Kein Leser hatte in meiner Erzählung vom lokalen und öffentlichen Ereignis des Mühlenbrands gemerkt, dass ihr nichts zugrunde lag. Wie sollte bei einem weniger erhellten Tatbestand, wie erst bei einem auswärtigen Vorfall die Phantasie von der Realität unterschieden werden? Wenn man gar das Gebot der frommen Frau Aldiga Zwibêc befolgte, jede Erfindung den Kollegen weiterzugeben, fiele auch die letzte Entlarvungsmöglichkeit weg.
Ich definierte mir, was der Bericht überhaupt darstellt. Er ist eine Form der Äußerung, vielleicht sogar eine Kunstform, obschon nur eine kleine wie die Bänkel Chiranor Auenbergers oder die Tätowierungen in der Röschengasse.
Spezifisch ist dem Bericht, dass ein wirklicher Vorfall sein Thema bildet. Könnte nicht bloß vorgespiegelt werden, dass der Vorfall sich ereignet hat? Nein. Wenn die Begebenheit erfunden ist, mag es der Leser merken oder nicht, ist ihre Darstellung kein Bericht. Romanschreiber, Novellisten und Anekdotenerzähler behaupten oft, dass ein von ihnen geschildertes Ereignis sich tatsächlich abgespielt habe. Es schädigt den Dichter nicht, es erhebt ihn sogar, wenn der Leser diese Behauptung nicht glaubt. Aber ein Chronist, der lügt, ist erledigt.
Die Behandlung der Materie birgt allerdings eine Alternative: entweder man nimmt das Ereignis zum Ausgangspunkt für ein Phantasieprodukt (was ich beim Mühlenbrand getan), oder man bemüht sich, die Zusammenhänge und Details so zu ermitteln, dass das Ergebnis mindestens in gleichem Maße interessant ist wie das Phantasieprodukt. (Ich hätte die Deicharbeiterszene entdecken müssen, nicht sie erfinden dürfen.)
Zum obigen Entweder hatte ich mein Geschick, zum obigen Oder mein Ungeschick bewiesen, aber ich musste den zweiten Teil der Alternative wählen.
Oh, nicht etwa aus moralischen Gründen! Da war jene nandussche Neugier. Von Kindheit an brachte ich infolge dieser Neugier von jedem Weg zum Kaufmann oder zum Postendienst eine solche Fülle von Erzählenswertem heim, dass man es zumindest für Übertreibung hielt. Mich verdross diese Verdächtigung, weil ich es nicht nötig hatte, zu erfinden, sah und hörte ich doch überall so viel Unglaubhaftes, das dennoch Wahrheit war. Wie konnte es sein, dass die mir selbstverständlichen Erlebnisse den anderen unmöglich schienen?
Jetzt hatte ich zum ersten Mal etwas erfunden, und alle hatten es geglaubt ... Sollte ich also bei der Lüge bleiben? Nein.
Gerade weil mir bei der ersten Jagd nach der Wahrheit die Wahrheit entgangen war, wollte ich ihr fürderhin nachspüren. Es war ein ehrenhafter Entschluss.