Chronik Ramaúds/Alynias Meisterkurs/Sphärenklänge

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Überblick   Ankündigung   Begrüßung   Sphärenklänge   Erstes Konzert   Zweites Konzert   Abschied    

Dieser Text entstand im Rahmen des Briefspiels in Ramaúd und schildert die erste Berührung Alynia Sanja ya Malachis' durch die Sphärenklänge im Rahja 1041 BF.

Der nächtliche Sommerwind rüttelte an den Läden, die Alynias Zimmer nach draußen abschlossen. Das Mädchen konnte nicht schlafen, obwohl ihm der lange Tag in den Knochen steckte.
Morgens, mittags und abends hatte sie geübt, dann zum Abendmahl der Baronsfamilie das neue Duett mit Meister Ogdan vorgespielt. Ehe sie selbst zu Abend essen durfte, hatte der Blinde sie penibel auf alle Fehlnoten, Unsauberkeiten, Takt- und Tempofehler hingewiesen, die teilweise nicht einmal sie selbst wahrgenommen hatte. Schließlich war sie noch lange im Salon im Lampenschein über ihren Lehrbüchern für die nicht-musischen Fächer gesessen, während Signora Rahjada am Tisch daneben über Berichten und Zahlentabellen grübelte.
Nun lag sie auf der harten Matratze und der Wind ließ sie nicht zur Ruhe kommen. War es wirklich der Wind? Sie spürte auch eine Unruhe, wie ein unhörbarer Ruf, der sie immer wieder aus dem Wegschlummern zurück holte.
Schließlich stand sie auf, um einen Schluck Wasser aus der Karaffe auf dem Tischchen zu trinken. Dann saß sie eine Weile unschlüssig auf der hölzernen Bettkante, bis sie Efferds Ruf verspürte. Den Nachttopf ließ sie unbenutzt: Das Schloss war jetzt im Hochsommer so warm, dass es ihr nichts ausmachte, das Zimmer zu verlassen. Also hinein die leisen Pantoffeln, die ihr Signora Rahjada gegeben hatte, und hinein auf den langen Gang, an dessen Ende der zugige Abort wartete.
Dieser war ein hölzerner Kasten, kaum größer als der Kleiderschrank im Svelinyazimmer, und an die Außenmauer des Schlosses gezimmert. Höhenangst sollte man nicht haben, wenn man den Deckel von der Öffnung im Sitz nahm.
Alynia wollte sich gerade setzen, da durchdrang sie ein seltsames Gefühl: Ein einzelner, tiefer Ton war es, der die Härchen auf ihren dünnen Armen emporstehen ließ. Zugleich zog ein Kaleidoskop wirbelnder Farben vor ihren Augen vorbei. Was war das?
Verwirrt stand sie da, wartete ob diese Wahrnehmungen wiederkehren würden. Das tat es. Diesmal ein hoher Ton, der ein Kribbeln im Bauch verursachte und eine Sternenkaskade zeigte. Konnte das…?
Eilig zog Alynia ihren Nachtock von den Knien wieder hoch, schob die Abortöffnung zu und kletterte auf den Decke, um durch die knapp unter der Decke befindliche Lüftungsluke zu schauen.
Ihre unausgesprochene Vermutung schien zuzutreffen: Aus einem Fenster im dem Meer am nächsten gelegenen Eckturm der äußeren Schlossmauer drang gelbes Licht. Meister Ogdan war also wach. Dort war sein Zimmer. Und er musste noch immer üben. Aber welches Stück? Welcher Ton war so intensiv, dass sie ihn über diese Entfernung hören, fühlen und sehen konnte? Durch das endlose Rauschen der Wellen hindurch?
Die Neugier packte Alynia. Sie hüpfte von ihrem Aussichtspunkt und machte sich auf den Weg.

Zu dieser Nachtstunde war im Schloss niemand mehr unterwegs. So war sie ungesehen auf den äußeren Mauergang gelangt und stand nun vor der Bohlentüre des Turmzimmers.
Noch zwei weitere Male war sie auf ihrem Weg von einer außerordentlichen Empfindung ergriffen worden. Doch im Moment vernahm sie lediglich Saitentöne, die sich anhörten, als stimme der blinde Rebecspieler sein Instrument: Lang anhaltende Klänge, deren Höhe sich gleitend in Zehnteln oder noch kleineren Bruchteilen veränderte, die sich zu unsauberen und reinen Obertönen addierten. Ogdan musste fortwährend mit zwei oder mehr Saiten seines Instruments spielen. Farbtupfer und graue Sprenkel tanzten immer wieder vor Alynias Augen.
Doch da entfaltete sich mit einem Mal ein Prisma vor ihr, wie ein Tsabogen mit verkehrten Farben. Fünf Töne erklangen zugleich, in Intervallen, die sie aus keinem Lehrbuch kannte. Ein Zittern ergriff Alynias Muskeln, das sie kurz in die Knie gehen ließ. Das Mädchen konnte sich nicht mehr einhalten, beugte sich zum Schlüsselloch und blickte hindurch.
Von Ogdans Zimmer, das sie noch nie betreten hatte, überschaute sie aus dieser Perspektive nur einen Teil. Dort standen ein eisernes Bettgestell, ein Wasch- und ein Schreibtisch, ein Bücherschrank, ein Stuhl und ein Notenpult. Der Lehrmeister stand vor letzterem mit dem Rücken halb zu ihr, hatte die Rebec unter seinem Kinn und spielte vor dem geöffneten Fenster, das hinaus aufs Meer der Sieben Winde wies.
Doch wo Alynia die im Nachtlicht rollenden Wellen hätte sehen sollen war kein Meer. Sie sah nicht den Horizont, nicht den Himmel mit dem vertrauten Sternbild des Kelches. Was sie erblickte, konnte sie kaum in Worte fasse: Es war, als habe Phex, oder eher eine ihr gänzlich unbekannte Gottheit, das Bühnenbild der Welt zur Seite geschoben und so einen lichtlosen Abgrund enthüllt.
In diesem regten sich gestaltlose Schatten, zogen nebulöse Schemen ihre Bahn. Und dahinter… war das eine Mauer, noch schwärzer als die Finsternis? Sie fühlte mehr als dass sie sah: Irisierende Kugeln im Nichts, rotierende Spiralen wie aus Feuer, keiner Farbe, die auf Dere bekannt wäre, pulsierende Strukturen, deren Form den Gesetzen der Derometrie widersprach.
Ein Schwindelgefühl ergriff Alynias und ein Keuchen löste sich aus ihrer Kehle, das sie aber sofort selbst mit der Hand vor dem Mund unterdrückte, bevor es zum Schrei werden konnte. Alynia zitterte wie Espenlaub und Schuld trug nicht die kühle Nachtluft.
Was sie sah und hörte, faszinierte sie, zog sie in seinen Bann. Es war, als habe Ogdan ein Guckloch geschaffen in eine Welt der Musik, die sie bisher nur erahnen konnte. Alynia schloss die Augen, doch es genügte ihrem Geist völlig, die Klänge zu hören, um sie die Bilder weiter sehen zu lassen.
Und dann war sie plötzlich selbst Teil der wirbelnden Schatten. Sie sah, wie sich ihre Finger zu dunklem Rauch verflüchtigten und fühlte, wie ihr Körper unstofflich wurde. Jetzt endlich löste sich der vorher unterdrückte Schrei aus ihrer Kehle, hoch und disharmonisch. Präzise wie ein Skalpell durchschnitt er das Gespinst von Ogdans feinen Tönen und Alynia sank in die Knie. Ihr wurde schwarz vor Augen.

„Wache auf!“ Die fordernde Stimme ihres Lehrmeisters brachte Alynia zurück zu Sinnen. Sie schlug die Augen auf und blickte sich um. Bis zur Hüfte mit einer groben, grauen Wolldecke zugedeckt, lag sie auf dem Bett in Ogdan Zahins Turmzimmer. Fahles Licht umgab sie.
Ihre Augen zuckten zu dem zweiflügligen Fenster. Alynia holte erleichtert Luft: Von draußen drang bereits die erste Morgendämmerung herein. Der schreckliche, schöne, lichtlose Abgrund jenseits der Sphären war verschwunden. Und jetzt hörte sie auch das Rauschen der Wellen.
Das Mädchen setzte sich auf und erblickte nun den Musicus, der in einem Ohrensessel neben der Türe saß. Sein Gesicht war ihr zugewandt und er hatte gehört, dass sie sich bewegte: „Wie fühlst du dich?“, fragte er.

„Ich weiß nicht so genau...“ Alynia horchte in sich hinein. „Mir ist schwindelig und ich fühle mich ein bisschen wie nach einem anstrengenden Lauf, ein wenig zittrig... im Kopf?“ Sie fasste sich an die Stirn. „Aber mir tut eigentlich nichts weh. Was war das, Maestro? Hab ich geträumt, oder war da eine große Leere und bin ich da hineingefallen?" Hilfesuchend blickte das Mädchen zu ihrem Lehrer.

„Du hast es tatsächlich gesehen?“ Ogdan strich sich über das stoppelige Kinn und schien mehr zu sich selbst zu sprechen: „Vielleicht hat es so kommen müssen. Besser hier als irgendwo, zufällig.“
Die Bernsteingläser seines Nasengestells richteten sich auf die Schülerin: „Mein Kind, ich werde dich unterweisen, wie du sie spielen kannst, ohne dass die Anderen dich erblicken oder gar zu dir gelangen.“

„Wie ich was spielen kann?“, fragte Alynia verwirrt.

Ogdan stand auf und griff untrüglich zu seiner Rebec: „Musik, die selbst den größten Komponisten zugrunde gerichtet hat: Die Sphärenklänge.“

(wus, ka)