Briefspiel:Der Krieg der Farben/Am Tag der Treue

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Weiße.png Geschichten am Rand des Kriegs der Farben Rote.png
Datiert auf: 12. Travia 1041 BF Schauplatz: Tafelbergfestung zu Urbet Entstehungszeitraum: Frühjahr 2018
Protagonisten: Auricanius von Urbet u.w. Autoren/Beteiligte: Haus Urbet.png Gonfaloniere

Am Tag der Treue

Auricanius stand benommen am Fenster. Eine bleierne Schwere hatte von dem Geweihten Besitz ergriffen. Sein Blick irrte firunwärts über die Lindwurmfelder, nichts fixierend, einfach nur weit in die Ferne reichend. Ihm war schlecht, als müsste er sich übergeben – aber er musste es nicht. Es war ein Gefühl des Ausgeliefert-Seins, der Aussichts- und Ausweglosigkeit, das ihn lähmte. Er wusste, dass sich das Kriegsgeschick seiner Familie an diesem Morgen gegen sie gewandt hatte – ohne dass es dazu einer Kriegshandlung bedurfte. Und er wurde das Bild Acinas, der Tochter des toten Barons, ihres Bluts und seiner eigenen verschmierten Hände auf ihrer Wunde nicht los. Es geisterte vor seinem inneren Auge umher, nur dass er statt ihres bewusstlosen Gesichts das seiner eigenen Tochter darin wiederzuerkennen glaubte.
„Wer war hier eingeteilt?“, hörte er das Brüllen des sonst so beherrschten, sich nun aber in seiner Stimme überschlagenden Panthino nur dumpf im Hintergrund widerhallen. Der Baron von Cindano schien unter den eigenen Wachen bereits Konsequenzen für deren Versagen – an Verrat mochte man gar nicht denken – ziehen zu wollen. Dass der Valvassor, sein Bruder Rondralio, hingegen kreidebleich an der Wand direkt neben der Tür zum verhängnisvollen Gemach lehnte und entgegen seiner gewöhnlich aufbrausenden Art kein Wort rausbrachte, nahm Auricanius im Augenwinkel noch wahr. Er schien ebenso gelähmt, vielleicht aber auch gänzlich überfordert von der Situation zu sein.
Sie alle wussten, dass der Mord am Baron von Aldan auf sie zurückfallen musste. Dabei hätte sich dessen Gefangenschaft heute in einen Triumph ihres Hauses verwandeln sollen, durch die Bekanntgabe des mit ihm Ausgehandelten und die damit einhergehende Auflösung des Konflikts mit dem Erzherrscher … der in Aldan stand … und nun nicht mehr ruhen würde, bis er sie zur – vermeintlichen – Rechenschaft gezogen hätte. Für einen Moment sah Auricanius das Gesicht Ancuiras' vor sich, malte sich aus, welche Zornesfalten sich darüber legen würden, wenn er erst vom Tod Reons erfuhr. Er wollte gar nicht weiter darüber nachdenken, was danach geschähe …
„Raus, oder ich vergesse mich!“
Es war wieder das Gebrüll Panthinos, das den Geweihten ein Stück weit aus seinen Gedanken riss. Und es galt diesmal offenbar nicht den Wachen, sondern einer plötzlich in der Tür stehenden Person: Preciosa nämlich, der Fürstenwitwe, die wie immer verschleiert war. Sie blieb kurz stehen, schien ihren Blick durchs Gemach wandern zu lassen … und verschwand dann wieder. Rondralio hinter ihr versuchte Panthino mit einer hilflos wirkenden Geste zu beschwichtigen. Vergeblich. Der tobte weiter. Auricanius aber schüttelte die bleierne Schwere endlich ab … und eilte der Verschleierten hinterher …


„Warte, Preciosa“, rief Auricanius der vor ihm durch den Korridor stapfenden Verschleierten hinterher. Er wusste, dass sie ihn hörte. Doch sie hielt nicht an.
„Preciosa, warte“, wiederholte er sich, während er schnellen Schrittes aufholte. Erneut ohne Reaktion.
„Warte doch …“, schnaufte er, als er sie an der Pforte zum Hof endlich einholte und nach ihrer Hand griff. Die alten Brandnarben ertastete er dabei auch durch das sie verhüllende Tuchgespinst deutlich.
Preciosa zuckte bei der Berührung unwillkürlich zusammen und schien ihm die Hand sogleich wieder entreißen zu wollen. Sein Griff gab aber nicht nach. So drehte sie sich zu ihm um … und sagte nichts. Den durchdringenden, missbilligenden Blick ihrer braunen Augen bemerkte Auricanius trotz des Schleiers. Er sah darin die Verachtung und den Hass, die sie ihm als vermeintlich Verratene nun bereits seit über einem Jahr entgegen brachte. Dass er sie gezwungen hatte, ihre Töchter in die Ferne ziehen zu lassen und selbst in Urbet zurückzubleiben, hatte sie ihm nicht verziehen – und die von ihm selbst gesehene Notwendigkeit zu diesem Schritt bislang nicht eingesehen. Dass ihr Hass und ihre Verbitterung ihre Töchter davon abgehalten hätten sich so zu entwickeln, wie sie es sich selbst sicherlich für sie wünschte, zu glücklichen Menschen nämlich, konnte oder wollte sie noch immer nicht nachvollziehen. Zu welch extremen Schritten sie bei der Verfolgung ihrer Ziele mittlerweile fähig war, hatte sie aber ja vor Jahren schon beim Zweiten Massaker hier auf dem Tafelberg – hier im Valvassorenpalast – bewiesen. Und Auricanius war sich bei ihr seither nie mehr gewiss, wie weit sie noch gehen würde …
„Bitte, Preciosa, sag mir, dass du damit …“ Seine Augen wiesen zurück in den Korridor, zum Gemach des toten Barons. „… nichts zu tun hast.“
Sie schwieg. Nur ihre Augen schienen noch eine Spur zorniger auf ihn herabzublicken.
„Sag’s mir, bitte …“
„Wozu?“ Sie zischte mehr, als dass sie sprach.
„Ich muss es wissen“, flehte er sie an.
„Nein, du willst … um es dir einfach zu machen! Sag du mir, was mir dieser Tote nützen sollte!“ Sie appellierte an seinen Verstand.
Er sah sie beinahe ertappt an. „Ich …“, stammelte er, brach seinen Satz aber sofort wieder ab. Wenn es ihr Ziel gewesen sein sollte, ihn weiter zu verunsichern, dann war ihr das geglückt. Aber war das ihr Ziel? Er ließ ihre Hand jedenfalls wieder los. Und sie drehte sich um, wandte sich zum Rahjadanspalast, bereit den einstigen Vertrauten, ja Geliebten, mit seinen Fragen zurückzulassen.
Auricanius blickte ihr hinterher … und sah plötzlich in einem der Turmfenster des Familienpalasts etwas aufflackern. Feuer! Das war Ignigenies Zimmer! Das Zimmer seiner Tochter! Er war erneut benommen … aber so gar nicht gelähmt. Er rannte los, instinktiv, ohne es selbst zu spüren …