Archiv:Von Erde und Dere (BB 14)

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Von Erde und Dere

Aventurien ist eine Phantasiewelt. Genauer gesagt, es ist eine phantastische Kombination realer Elemente. Schon Leonardo da Vinci hat notiert, um einen Drachen zu zeichnen, müsse man einfach Körperteile verschiedener wirklicher Tiere kombinieren. Für Rollenspielzwecke verwenden wir Epochen der irdischen Historie, am häufigsten das Mittelalter, als geistige Kulisse für das Theater, in dem wir selbst unser einziges Publikum sind.
Welches Zeitalter haben wir aber in Aventurien, oder zumindest im Lieblichen Feld? Es dürfte unbestritten sein, daß es weder Hochmittelalter noch Barock ist, aber dazwischen kommt alles in Frage, vom 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert. Niels Gaul hat vor einigen Jahren Yaquiria mit dem Italien des 15. Jahrhunderts verglichen. Das wäre die Schnittstelle des ausklingenden Mittelalters mit der herandämmernden Renaissance. In der Tat befindet sich Aventurien in einer Phase des Übergangs: die Kriege, Glaubenskrisen, Seuchen und sozialen Unruhen der letzten Jahre beweisen es.
In zunehmendem Maße werden für das Liebliche Feld italienisch klingende Personennamen und Titel verwendet. Das "Imperium Renascentum Horasi" ist als Ausdruck einer Rückbesinnung auf antike Kultur zu verstehen, wie sie die Renaissance versuchte. Die methumische Tracht ist aus der Renaissance. Der Wahrer der Ordnung zu Drôl wird als "Renaissance-Prälat" bezeichnet. "Rollenspiel in der Renaissance" sollte auf der Box über das Reich des Horas stehen.
Andererseits stand den Autoren der Box das Mantel-und-Degen-Genre vor Augen, das Frankreich des frühen 17. Jahrhunderts, die Zeit der "Drei Musketiere". Die neue Mode Yaquirias zeigt das, der "Kardinal Richelieu" Abelmir von Marvinko, die kühnen Degengefechte. Titelinflation, Merkantilismus, beginnender Absolutismus weisen auf immer spätere Phasen der Geschichte. Niels erwog einmal die Einführung des Französischen als Wiedergabe eines "Neobosparano", so wie derzeit Latein zur Darstellung des Bosparano benutzt wird.
Aber auch England im 16. Jahrhundert bietet wertvolle Anregungen. Amene-Horas als Königin Elizabeth I., Harika die Rote als Francis Drake, die Bedrohung alanfanischer Kolonien gleich jenen Spaniens in der Neuen Welt, Seemacht und "Herrsch Horasia". Zuweilen wird gar englisches Staatsrecht benützt, um zu argumentieren, warum aventurisches Adelsrecht in Yaquiria "so" und nicht anderes aussehen "müsse". Ein grandioses Panorama bietet aber auch Spanien um 1500, die Zeit der Reyes Catholicos Ferdinand und Isabella, des Kolumbus, der wieder nach Güldenland fährt, der Auseinandersetzung mit den Novadis, später der Armada, der Galeerenschlachten, der Inquisition und vieler anderer Motive. Für meinen Geschmack strebt das Horasreich der Box schon zu sehr dem Barock entgegen; ich würde mir eine Mischung aus Italien und Spanien in der frühen Renaissance wünschen.
Vergleiche zwischen aventurischer und irdischer Geschichte sind aber äußerst schwierig und fragwürdig. Aventurien kennt keine Nationen (außer den Thorwalern), dafür neben den Menschen andere Rassen denkender Wesen (Elfen, Zwerge, Orken u.a.), was eine radikal andere Denkweise und Selbstsicht der Menschen zur Folge hat. Es gibt Magie, handelnde Götter und Dämonen, ein andersartiges Religionsgefüge. Geistes-, Wissenschafts-, Architektur- und Kunstgeschichte sind denn auch kaum in einem Text angerissen, es fehlt an Motiven und Themen für Oper, Theater, Gesang, Gemälde, Statuen.
Unüberschätzbar in ihren Auswirkungen ist die aventurische Gleichberechtigung der Geschlechter: Leben und Alltag der Aventurier folgen Strukturen, die mit denen unserer Vergangenheit kaum vergleichbar sind.
Wenn ich eine Zeit für Aventurien wählen könnte, wäre es Völkerwanderung/Frühmittelalter, wie sie Tolkiens Mittelerde und dem England des König Artus zugrunde liegen. Artus bedeutet: die Sehnsucht nach einem ungebrochenen Grundton wie der Ainulindale, nicht ein strenger und monotoner Aufbau, sondern durchaus vielgestaltig, aber von einem geheimen Feuer beseelt, dem "Licht wie von einer Wolke mit einer Flamme im Herzen". Das ist eine Welt, in der sich eine Tafelrunde zusammenfinden kann (wie Frank Bartels sie für König Brin vorschwebt), deren Grenzen aber nicht scharf abgegrenzt sind, sondern sich auffasern und verschwimmen, bis das Auge des Geistes an seinen Horizont stößt.
Denn was Aventurien fehlt, sind offene geographische Grenzen. Da Aventurien streng von Meeren und einem überhohen Gebirge abgezirkelt ist, macht sich seine Kleinräumigkeit störend bemerkbar. Weder in Abenteuern noch literarisch sind weite Reisen durch ferne Länder voller Entdeckungen möglich. Die Wüste Khôm ist winzig, die Städte sind winzig, die menschliche Gesamtbevölkerung des Kontinents entspricht der des Königreichs Kastilien im 15. Jahrhundert. Die Grenzen verhindern eine Völkerwanderung wesentlichen Ausmaßes, welche die Gegenwart in Bewegung bringen könnte. Ohne Bewegung, Bedrohung und Beschäftigung der Menschen ist es wiederum unerklärlich, wieso sie, hochgerüstet und zahlenmäßig gewaltig überlegen, nicht längst den Orken in deren winzigem Gebiet den Garaus gemacht haben.
Völkerwanderung, unerforschte Räume und offene Grenzen sind eines der Geheimnisse von Mittelerde. Durch sie werden Unruhen, Geheimnisse und Zwielicht möglich, die den Bewegungsraum für Abenteuer und eine stimmungsvolle Atmosphäre herstellen. Man vergleiche nur Numenor mit Mittelerde: Nur in Beziehung zu diesem hat jenes eine literarische Rolle, mit sich selbst allein keine.
Aventurien gleicht einem Spielbrett, auf allen vier Seiten rinnt am Ende der Welt das Wasser runter. Es ist zwar von anderen Kontinenten umgeben, diese erlösen es aber nicht aus seinem Dilemma, weil sie geographisch und historisch keine wirkliche Beziehung zu Aventurien haben. Die Lösung heißt trotzdem nicht, den beschriebenen Raum nun einfach größer zu machen, sondern den wirkenden.
Die angrenzenden Räume sind ein Reservoir der Phantasie zur Bereicherung des Zentrums, nicht ihrer selbst. Sie besitzen literarisch eine dienende Funktion. Sie sind der Hintergrund im Gemälde, der diesem Tiefe verleiht. Bildlich gesagt: Das Eherne Schwert sollte übersteigbar sein, aber nicht überstiegen werden.
Einstweilen (und wohl für immer) sind die Dinge freilich so zu nehmen, wie sie sind. Der Drang nach dem "perfekten Aventurien", dem ich gern anhänge, verstellt den Blick auf die Tatsache, daß Aventurien ein Spielhintergrund ist, eine Kulisse für das Spiel; in diesem Lichte relativiert sich letztlich die Bedeutung seiner Detailgestaltung.

Empfehlen möchte ich zum Spiel im Lieblichen Feld noch folgende ungemein lesenswerte, fesselnde Bücher:

  • Niccolo Machiavelli, Il Principe (Der Fürst)
  • Baldassare Castiglione, Il Cortegiano (Der Hofmann)
  • Sarah Bradford, Cesare Borgia
  • Jack Beeching, Don Juan d'Austria
  • Walter Scott, Quentin Durward
  • Alexandre Dumas, Die drei Musketiere
  • Richelieu, Politisches Testament
  • Arthur Zajonc, Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewußtsein

Es sind dies zwei Romane, zwei Biographien, drei Leitfäden für Fürsten und Edelleute und eine Wissenschaftsgeschichte, die in ihrer Gesamtheit vorzüglich den Geist, das Feuer und die Faszination jener Epoche widerspiegeln, welche uns im Lieblichen Feld auf phantastische Art neu begegnet.

Michael Hasenöhrl