Chronik Ramaúds/Stapellauf/Werft2

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Wieder auf der Werft

Auf der Wache hatte Sergeant Bavo Imerean den mehrheitlich von Alesia Degano gegebenen Bericht in quälender Langsamkeit niedergeschrieben. Dann hatte er diesen von einem Soldaten zum Kopisten bringen lassen. Die Abschrift sollte „noch diesen Abend, spätestens morgen früh“ mit dem nächsten Flusssegler den Yaquir hinauf bis Côntris gebracht und von dort mittels Semaphor nach Shenilo übermittelt werden. Hauptmann Vistelli und die Leondrisgarde, war Rahjada re Kust zuversichtlich, würden rund um Gut Zweiflingen nach Hinweisen auf den gesuchten Schurken oder dessen Kontaktperson Ausschau halten.
Alesia war weniger weniger optimistisch, dass dies fruchten würde, aber zumindest war nun auch jene mögliche Fährte abgesteckt. Während die beiden nach wie vor Verdreckten nun in Richtung der Werft strebten, merkte sie, dass die Anstrengungen des Tages sie hatten hungrig werden lassen. Vielleicht war es aber auch der leckere, an ihre Heimatstadt erinnernde Duft nach gebratenem Fisch, der aus den frühabendlichen Häusern drang, der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Glücklicherweise kamen sie kurz hinter dem Tor zum Hafenviertel an einem einsamen Stand vorbei, an dem trotz der fortgeschrittenen Tageszeit noch handtellergroße Teigfladen, gefüllt mit gegrillten Efferdsfrüchten, zu kaufen waren.
So gestärkt trafen die Frauen kurz darauf an der Werft ein, die mangels eines griffigeren Namens bislang einfach „Degano re Kust“ genannt wurde. Die Facharbeiter waren dabei, ihre Werkzeuge aufzuräumen. Ein Grüppchen Bewaffneter stand am Tor, rauchte stinkende Tobakpfeifchen und nahm erst Haltung an, als die beiden Neuankömmlinge direkt neben ihnen standen.
Flavia Lingetti, richtig?“, sprach Rahjada die Söldnerin an, die den Befehl zu haben schien. Die Pockennarbige nickte und salutierte nachlässig. „Ist im Laufe des Nachmittags ein Fremder hier durchgekommen?“ „Nein, Herrin“, sagte die Kämpferin mit kratziger Stimme: „Des Barons Befehle sind klar: Nur bekannte Personen dürfen durch, alle anderen müssen sich anmelden.“
Alesia drängte sich vor: „Hat sich in den letzten… vielleicht drei Wassermaß?… jemand angemeldet?“ Flavia nickte: „Mehrere. Hier ist die Liste.“ Einer ihrer Leute reichte Alesia eine Kladde mit einer Tabelle auf Pergament: Name, Amt, Auftrag. Acht Einträge standen darauf. Nur der letzte war nicht durchgestrichen: „Was bedeutet das?“, wollte die Schiffsbauerin wissen. „Der ist vorhin erst gekommen, um etwas ins Konstruktionsbüro zu bringen. Er muss noch auf der Werft sein.“
„Name: Giallo Rubis. Amt: Bote des Rats. Auftrag: Lieferung ans Konstruktionsbüro“, las Alesia vor. Rahjada schüttelte den Kopf: „Das kann nicht sein. Ich kenne alle Boten des Rats von Ramaúd namentlich. Ein Giallo Rubis ist nicht darunter.“ „Vielleicht nicht des Rats, sondern eines Rats?“, mutmaßte Alesia.
„Problem?“, wollte die Söldnerin wissen und legte die Hand auf ihren Schwertgriff. Die Baronin wirkte unentschlossen: „Ich hoffe nicht, aber… was sollte er im Büro Eures Schiffsbaumeisters wollen, Meisterin Degano, falls es der gleiche Schurke ist, dem wir entronnen sind?“
„Es wäre ein äußerst seltsamer Zufall, wenn das eine nichts mit dem anderen zu tun hat, findet ihr nicht auch?“, erwiderte die Degano, ließ allerdings der Signora keine Zeit zu antworten. „Was auch immer dieser Bote im Schilde führt, es ist höchst verdächtig und egal was es ist, wir sollten dem auf den Grund gehen. Wenn man einen Schiffsbauer treffen will, dann ist es eine Sache zu versuchen sein Schiff in Brand zu setzten, eine ganz andere ist es jedoch zu versuchen, all seine Papier, Pläne, Zeichnungen und Modelle zu vernichten. Vielleicht ist es eine Finte und er hat es nur auf die Rahjalina abgesehen, vielleicht auch nicht. Eines ist jedoch gewiss: Wir müssen ihn finden und das möglichst schnell.“
Sie atmete kurz durch: „Zu unserer eigenen Sicherheit, sollten wir uns dieses mal von einem Bewaffnetem begleiten lassen, Signora.“ Die Condottiera Flavia hatte den kurzen Wortwechsel verfolgt und gab nun einem ihrer Leute einen Wink: „Dettmar und ich begleiten Euch. Also los.“
Der Raum befand sich am anderen Ende der Werft, auf halber Höhe der Mauer zum Meer hin. Von der hölzernen Plattform davor hatte man einen ausgezeichneten Blick über das Dock, auf dem die „Rahjalina“ auf ihren Pallen ruhte. Ein schönes, schlankes, modernes Schiff, wie Alesia beim Erklimmen der schmalen Treppe wiederum bemerkte.
Durch ein kleines Fenster konnen sie in den von einem Zeichentisch und Regale voller Pergamentrollen weitgehend gefüllten Verschlag schauen. Im Schein einer Kerzenlaterne, die trotz der Abendsonne vom westlichen Meer her bereits entzündet war, sahen sie den von Haus Degano angeworbenen Baumeister, der gerade eine Planskizze zusammenrollte. Neben ihm stand auf dem Tisch ein mit blauem Samt ausgeschlagenes, offenes Weinkistchen. In diesem ruhte eine Flasche mit dem Alesia nun bekannten Etikett des Zweiflinger Perlweins, gebunden mit einer adretten Schleife.
Als Rahjada schüchtern gegen die Türe pochte, blickte er Mann auf, entdeckte die Neuankömmlinge und lächelte überrascht. Er trat zur Türe, öffnete diese und grüßte: „Ihr hier? Man sagte mir, Ihr wärt in der Stadt. Was kann ich für Euch tun?“
„Ingerimm zum Gruße“, erwiderte die Degano und trat ein, „Wir sind auf der Suche nach einem Boten? War vor kurzem einer hier? Stammt diese Kiste dort drüben vielleicht von ihm?“ Sie ging hinüber und betrachtete die Kiste aufmerksam.
„Diese Kiste…?“ Der Baumeister zögerte erst, eilte dann aber an Alesias Seite: „Ach... die meint Ihr!“ Er mühte sich, zügig den daneben liegenden Deckel zu nehmen, um ihn darauf zu setzen. „Nein… diese Kiste… ist schon länger hier. Für die Schiffstaufe übermorgen.“
Alesias scharfer Blick wanderte über das Kistchen und dessen Inhalt, bevor der Mann es schließen konnte. Die Flasche, oder besser: jede Flasche von dieser Form, passte genau hinein. Das Samt um das dunkelgrüne Glas des nun in ihr ruhenden Perlwein-Behältnisses wirkte eilig festgestopft. Das dunkle Rot des Siegellacks über dem Korken biss sich mit dem Blau der Schleife und des Verpackungsstoffs.
„Zweiflinger Perlwein nach Bosparanjer Art. Abgefüllt 2531 Horas“, las Rahjada, die den beiden gefolgt war. „Das muss die Flasche sein, die mein lieber Gemahl hierher geschickt hat. Ich soll sie am kommenden Rohalstag am Bug der Karavelle zerschmettern. Wobei… ich bin mir sicher, dass er eine Flasche aus unserem Hochzeitsjahr geschickt hat: 2528 Horas oder 1036 BF.“
Das alles kam der Degano nun noch viel seltsamer vor. Irgendetwas schien hier ganz und gar nicht zusammen zu passen und es galt nun herauszufinden, was genau dies war. „Ich halte es für durchaus ratsam – gerade in Anbetracht der zurückliegenden Ereignisse – die Kiste mit der Flasche von hier fortzubringen. Die Gefahr, dass sie ausgetauscht werden könnte, ist einfach zu groß“, erklärte sie der Signora und ließ aus, dass sie glaubte, dass dies bereits geschehen war. „Das Beste wird sein, sie von hier wegzubringen – hier wird sie schließlich vermutet, da man sie hier für den Stapellauf benötigt – an einen Ort, an dem sie sicher ist und an dem sie keiner findet, weil sie dort keiner sucht. Und Ihr, Signora, sollte mit Eurem Gatten Kontakt aufnehmen, schließlich solltet Ihr sicher sein, dass Ihr die richtige Flasche an der Rahjalina zerschellen lasst und keine, die möglicherweise mehr Schaden anrichtet als uns allen lieb ist...“
Rahjada blickte die Begleiterin aus großen Augen an: „Wie meint Ihr das? Wie sollte eine kleine Flasche Bosparanjer mehr Schaden anrichten als einen Brummschädel?“
Doch Alesia antwortete nicht, sondern wandte sich eilig an ihren Baumeister: „Stand die Kiste die ganze Zeit über hier? Vor allem heute? Und ward Ihr die ganze Zeit anwesend? Wann wurde sie denn überhaupt hierher gebracht und durch wen?“
„Nein, nein… die steht schon seit ein paar Tagen hier… also… stand im Schrank… da drüben. Ich habe sie nur gerade herausgeholt um… die Schleife drum zu binden.“
So hektisch hatte Alesia ihren Angestellten nicht in Erinnerung. Die Hand der Degano zuckte im gleichen Moment vor, in dem der Mann eilig nach nach dem Kistchen griff und den Deckel aufsetzen wollte, und schloss sich um den Flaschenhals. So standen sie beide unschlüssig einander gegenüber und starrten einander an, blau ihre Augen, braun die seinen.
Braun? In Alesia Geist surrte gedanklich ein Tau durch eine Talje. Sie war sicher, dass der Mann, der bereits für ihren Vater Holdur gearbeitet hatte, graue Augen hatte.
Rahjada hatte derweil einen Schritt zur Seite gemacht und den Kartenschrank geöffnet, auf den der Baumeister gewiesen hatte. Jetzt erklang ihre Stimme, voller Überraschung: „Das ist seltsam, hier steht ja noch eine Flasche.“
„Packt ihn!“, rief Alesia da und deutete auf den Mann vor ihr, „Packt ihn, diesen… diesen falschen Baumeister!“ Gleichzeitig versuche sie die Kiste mitsamt der Weinflasche aus seinem Griff zu befreien und zu sich herüber zu ziehen.
„Ihr!“, zischte sie, „Ihr habt wohl gedacht, Ihr seid ein ganz gewiefter, intelligenter Verbrecher. Uns austricksten wolltet Ihr wohl, aber so dumm wie Ihr dachtet, sind wir nicht. Ich weiß doch, wie meine Leute aussehen und Ihr, ja Ihr, Ihr seid keiner von ihnen!“
Alesia hörte hinter sich das unverkennbare Geräusch, mit dem die Condottiera ihre Klinge blank zog. Der Mann vor ihr aber reagierte ebenso rasch: Ein Zittern und Beben wogte über die Haut seines Gesichts, das sich für die Dauer zweier Wimpernschläge zu einer grotesken Fratze verformte. Dann sah die Degano jenen Schurken vor sich, der sie und Rahjada früher an diesem Tage gefesselt und in den Keller gesperrt hatte. Er fletschte seine Zähne: „Ihr seid lästig!“
Statt um die Flasche zu ringen, ließ er diese los und stieß Alesia in den Laufweg Flavias, die mit gezogenem Säbel herbei eilte. Die Degano stolperte und kämpfte darum, die Perlweinflasche nicht fallen zu lassen, die mit wer weiß was für einem alchimistischen Dämonenzeug gefüllt sein musste.
Der Schurke schnellte an ihr vorbei in Richtung des Ausgangs. Die Söldnerin schlug knapp an Alesia vorüber und traf den Mann an der linken Hüfte. Die Klinge glitt an einem unter der Baumeisterverkleidung versteckten Kettenhemd ab, aber die Wucht des Treffers brachte ihn weit genug von seinem Kurs ab, dass er rechts der Türöffnung gegen die Wand prallte.
Doch schon hatte er ein großes, spitzes Zeichendreieck aus Metall ergriffen und hielt es als Waffe zwischen Flavia und sich. Die Kämpferin stellte sich schützend vor Alesia und Rahjada, zögerte aber und knurrte über die Schulter: „Braucht Ihr ihn lebendig?“
„Lasst ihn leben!“, forderte die Schiffsbauerin rasch. Man musste den Mann befragen.
Die Söldnerin nutzte den begrenzten Raum, so gut sie vermochte, und hieb nach der Hand, mit dem der Fremde das Zeichendreieck hielt. Als er sich zur Seite duckte, um dem Angriff zu entgehen, trat sie ihm das Standbein unter dem Leib weg. Er stürzte und sogleich war die Kämpferin über ihm.
Doch so einfach war er nicht überwunden: Nach einem Beinfeger ging auch Flavia zu Boden, und sogleich rangen die beiden erbittert um ihren Säbel. Der Lärm führte den anderen Söldner, Dettmar, ins Bureau. Er griff ein und brachte den falschen Baumeister mit einigen Tritten dazu, von seiner Gegnerin zu lassen. Heftig atmend und zerschrammt sah dieser sich bald von zwei Säbeln bedroht und funkelte geschlagen seine Häscherinnen wütend an.
Jetzt trat Rahjada vor, unerwartet bestimmt: „Ihr habt Meisterin Alesia gehört: Wir brauchen diesen Schurken lebendig, um ihn zu verhören.“ Sie zog ihre große Nase kraus und blickte streng: „Ihr, Condottiera, und Eure Leute bringt ihn unverzüglich zum Schloss und steckt ihn in den Karzer. Lasst niemanden außer mir oder dem Baron zu ihm. Und nehmt diese Flasche mit – vorsichtig!“
Die Söldnerin nickte grimmig und zog ein Seil sowie ein Säckchen aus ihrem Gürtel. Rasch hatte sie den Gefangenen gefesselt und mit dem Tuchbehältnisse über dem Kopf vermummt. Bald zerrten zwei ihrer Leute diesen davon, gefolgt von der Befehlshaberin, die das Kästchen mit der falschen Bosparanjerflasche trug.
Dann waren Meisterin Degano und Signora re Kust alleine. Das Selbstvertrauen schien die Adelige wieder zu verlassen: „Ich sorge mich, ob wir damit verhindern konnten, was der Bursche geplant hatte. Ich werde hier natürlich alles durchsuchen lassen. Und mein lieber Gishtan soll sich den Gefangenen vornehmen. Ob dieser seinen Auftraggeber verraten wird?“
Rahjada seufzte, erschöpft von dem langen, aufregenden Tag, und setzte sich auf einen seltsamerweise trotz des Handgemenges nicht umgefallenen Hocker: „Im Augenblick sehne ich mich nach einem warmen, reinigenden Bad, das uns beiden gut tun würde“, sagte sie mit Blick auf ihrer beider schmutzige, abgerissene Erscheinung. „Aber vielleicht gibt es noch etwas, was wir zu vor tun sollten? Haben wir aus Eurer Sicht vielleicht noch etwas übersehen?“
Alesia antwortete nicht, kaum weniger erschöpft von dem, was sie hinter sich gebracht hatten, sondern schüttelte erst nur den Kopf. Draußen färbten die letzten Strahlen der Abendsonne die Häuser der Oberstadt rot, während das Hafenviertel allmählich in Dunkelheit versank. Auf den Werftmauern entzündeten die Wächter die Kerzen in den Laternen; Alesia hatte bereits nach ihrem Besuch nach dem ersten Zwischenfall Öllampen untersagt.
Jetzt streifte sie sich entschlossen ihre Handschuhe über: „Ich werde selbst alle denkbaren Stellen auf der Karavelle nach möglicher Sabotage untersuchen. Wir Deganos riskieren nicht, ein Schiff an etwas anderes als an Efferds Launen zu verlieren! Und ich nächtige hier auf der Werft. Sobald es hell wird, werde ich die 'Rahjalina' mit allen verfügbaren Arbeitern ein weiteres Mal durchsuchen. Ich verspreche Euch“, blickte sie Rahjada nun aufmunternd an, „übermorgen wird sie zu Wasser gleiten, und niemand soll das verhindern.“
Die Adelige wirkte beruhigt. Überraschend trat sie an die Schiffsbaumeisterin heran und umarmte diese schüchtern: „Ich bin froh, dieses Abenteuer dank Euch überstanden zu haben. Was hätte ohne Euch passieren können! Seid nicht nur meiner Dankbarkeit, sondern auch meiner Freundschaft versichert.“
Alesia wusste nicht recht, was sie erwidern sollte. Verlegen scheuchte sie ein Flattertier zur Seite, das auf ihrem Ohr gelandet war – und bemerkte einen prächtig bunten Horasmantel.
Dann verabschiedete sich Rahjada: „Ich nehme mir ein Zimmer in der 'Roten Krone'. Für den Baron und seine Familie haben die Hufnagels stets eines reserviert. Falls Ihr mich rasch brauchen solltet lasst mich wecken, egal was und wann es ist. Gebe Golgari Euch eine erholsame Nacht.“ Das zierliche Persönchen verließ das Bureau, und ihre leisen Schritte verklangen rasch auf der Holzstiege.