Briefspiel: Die Raloffkrise/Akt 2/Boronsbrot II

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Briefspielgeschichte aus: Briefspiel in Efferdas
Zyklus: Übersicht - Akt 1 - Akt 2 - Akt 3
Datum (aventurisch / irdisch): 14. Efferd 1033 BF bis Travia 1033 BF / 2012
Beteiligte (aventurisch / irdisch): Patriziat und Nobilitat Efferdas, Bürger und Einwohner der Republik / Familie Slin.png Count, Familie Kanbassa.png Kanbassa; Haus di Camaro.png Dajin, Haus Efferdas.png Elanor, Haus di Onerdi.png di Onerdi, Familie Varducchio.png Varducchio, Familie Vinarii.png Vinarii, Haus di Piastinza.png/Haus Thirindar.png di Piastinza
Schauplatz: Senat von Efferdas, Stadt Efferdas und Umland


Übersicht   15ter & 16ter Efferd   17ter Efferd   Hinter dem Vorhang   18ter Efferd   Im Senat I   Im Senat II   19ter Efferd   Boronsbrot I   20ter Efferd   Boronsbrot II    


In Sanct Parvenus und Novalia

Als am Nachmittag des 22. Efferd eine seegängige Galeere unter der Schwarzbunten Flagge, dem Banner der Hylailer Seesöldner, unter den Bastionen der Feste Efferdas passierte, hielten alle Beobachter dieser Szene - hauptsächlich arbeitslose oder unbezahlte Schauerleute, Matrosen von Schiffen, die auf Lieferungen warteten, Fuhrleute und Kleinhändler - für einen Augenblick den Atem an. Die Flagge der Hylailer war für die Efferdier nichts Ungewohntes - jene Handvoll Seesöldner, die in Novalia in der so genannten Karawanserei als maritime Büttel und zum gelegentlichen Geleitschutz stationiert waren, nutzen bei Bedarf eine Galiota, eine kleine Galeere für zwanzig Ruderer, und zeigten auf diese Weise regelmäßig Präsenz. Aber dies hier war ein veritables, vollbesetztes Kriegsschiff mit ungewisser Zweckbestimmung, das, als es an den Hauptanlegern vorbeizog, ohne anzulegen, einen spontanen Augenblick der Erleichterung hervorrief, der jedoch sofort von der kaum weniger dringlichen Frage abgelöst wurde, was es denn in Novalia wollen könne, wohin es recht augenscheinlich strebte. Efferdas pflegte in gutes Verhältnis zu den Seesöldnern, weshalb das Ereignis zumindest keine Panik hervorrief. Aber ein Schiff dieser Größe fasste problemlos drei Banner, und diese offenkundige, massive Präsenz sorgte gleichwohl für erhebliche Verwirrung. "Die sind von den Raloffs angeheuert, um uns vollends auszuplündern!" - "Die Raloffs sind bankrott - bestimmt haben sie auch bei den Hylailern Schulden!" - "Dann werden die uns alles wegnehmen, womit wir uns entschädigt haben!" - "Vielleicht geht der Seekönig auf Piratenjagd, und sie holen unsere Hylailer ab!" - "Ja, vielleicht kann der Magistrat die auch nicht mehr bezahlen, und sie lösen den Kontrakt auf!" - "Die sollen die Senatoren und Pfeffersäcke schützen, die sich jetzt in die Hosen scheißen, weil sie nicht wissen, ob sie morgen auch geplündert werden!" Diese letzte Einschätzung machte Eindruck im Hafen von Efferdas, denn sie warf Befürchtungen auf, dass die Hylailer in einer Krise wie dieser vielleicht nicht dazu angeheuert wurden, um das Wohl der Stadt als Ganzer ins Auge zu fassen, sondern um die Wohlhabenden vor dem Schicksal der Raloff-Besitzungen zu schützen - oder Schlimmeres, je nachdem, wohin die Stimmung umkippte.

In den letzten zwei Tagen hatte sich die Krise nicht entschärft. Als Folge der Senatssitzung vom Achtzehnten traten Bedienstete des Magistrats mit allerhand neuen Befugnissen auf, so etwa jene des Municipal-Kapitanats, die die Gewerbetreibenden des Nahrungsmittelsektors mit Bestandsaufnahmen heimsuchten, um die Lebensmittelreserven der Stadt zu taxieren und den Warenverkehr an den Stadttoren durchsuchten. Es wurde - noch - nichts requiriert, aber die Sorge vor bevorstehenden Beschlagnahmen wuchs und schürte das Misstrauen gegen die Stadtverwaltung. Als die Vertreter des Municipal-Kapitanats im Verlauf ihrer Bestandsaufnahme am Zwanzigsten nach Sanct Parvenus einfielen, wurden sie von einem gewaltbereiten Menschenauflauf empfangen und davongejagt - formell ein Akt der Rebellion gegen die legitimen Gewalten, der wiederum die Angst vor Vergeltungs- oder Gegenmaßnahmen steigerte. Die Nächte waren schlaflos und unruhig und fanden gleichsam in den Tavernen statt, deren Vorräte eher schneller als langsamer, aber dafür vielfach ohne Geld "auf Anschrieb" aufgezehrt wurden - dem Druck ihrer erregten Gäste konnten sich die Gastwirte nur schwer entziehen, wenn sie nicht selbst riskieren wollten, zum Opfer von deren "Selbstbedienung" zu werden. Am Einundzwanzigsten wurde ein Lagerhaus geplündert, in dem eine größere Lieferung der Weinhandlung Yaquiria Shenilo gelagert war. Selten hatte das einfache Volk so gut getrunken wie am Nachmittag und Abend dieses Tages, was dazu führte, dass die Nacht und der nächste Vormittag eher ruhig waren. Im Verlauf des Zweiundzwanzigsten verschlechterte die allgemeine Laune dafür um eine buchstäbliche Katerstimmung - denn die sonstigen Versorgungsprobleme hatten sich weiter verschärft und für ein erneut enttäuschendes Erwachen gesorgt.

Fildorn Petrea, der Wirt jener Parvenusgrunder Schänke, die einfallsreicherweise "Bei Petrea" hieß, war auf der Suche nach informellen Verkäufern im Hafenviertel, als die Hylailer einliefen. Auf dem regulären Markt war zu vernünftigen Preisen nichts mehr zu bekommen - aber nachdem sich in den letzten Tagen viele einfache Leute an fremdem Gut bedient hatten, mochte etwas preiswertes zu finden sein, wenn man es mit der Rechtmäßigkeit nicht mehr so genau nahm. Viele seiner Gäste aßen und tranken auf Pump, mit Ausnahme derjenigen, die schon unter normalen Umständen bloß Schnorrer waren - mit denen hatte er es jetzt einfacher, da sie jetzt von den anderen Gäste selbst verjagt wurden. Ebenfalls unter normalen Umständen wurden die notwendigen Einkäufe von seiner Frau Nonica besorgt, die kritischer mit dem Geld umging als er selbst. Heute aber hatte sie sich geweigert. "Die haben alle kein Geld und der Keller ist trotzdem fast leergesoffen!" hatte sie sich empört. "Wie sollen wir da die Vorräte aufstocken? Bier können wir uns bei den Preisen nicht mehr leisten, die Gäste werden nicht mehr zahlen wollen, wenn sie überhaupt noch zahlen!" - "Wir bekommen unser Geld schon noch zurück!" hatte er sie in einer lahmen Verteidigung zu beruhigen versucht, obwohl er sich dessen überhaupt nicht gewiss war. Nonica hatte sich nach den Anspannungen der letzten Tage jedoch als unversöhnlich erwiesen. "Diesmal gehst Du selbst zu den Händlern und machst Bücklinge, um noch was zu bekommen!", hatte sie geschimpft. "Und komm' nicht auf die Idee, noch mal unsere Tochter zu schicken, die hat schon genug Leuten schöne Augen gemacht, damit sie die eigenen zudrücken! Wenn Du nicht bis heute Abend einen Karren voll Vorräte beigeschafft hast, schwör' ich Dir, dass wir die Stube für die nächsten Tage dicht machen! Suff ist das einzige, was die Leute noch bei halbwegs guter Laune hält, auch wenn sie dabei laut werden! Nüchtern sind sie zwar nicht lästig, aber dafür geradewegs gefährlich! Normalerweise ist es umgekehrt, aber in diesen Zeiten steht eben alles auf dem Kopf!"

Im Hafen angekommen, war Fildorn froh, nach einer zunächst vergeblichen Umschau nach Ansprechpartnern eine seiner "zuverlässigen Beziehungen" zu treffen, einen eher kleinen, schlanken, jugendlich aussehenden Mann mit schmalen, taxierenden Augen, schwarzen, zurückgekämmten Haaren und einem schmalen Oberlippenbart: Refardeon Mutolo, aufgrund seiner Herkunft aus Eskenderun auch als "al-Chababi" bekannt, war nicht nur ein Stammgast im "Petrea", sondern auch ein passender Ansprechpartner in delikaten Situationen wie der jetzigen. Jeder in Sankt Parvenus wusste, dass er den Parvenusbrüdern angehörte, aber das erwähnte man im Gespräch mit ihm nicht, sondern setzte es stillschweigend voraus. Als Fildorn schließlich auf ihn gestoßen war, hatten die Hylailer schon eine Weile in Novalia festgemacht. Fildorn sah noch, wie er einem halbwüchsigen Mädchen ein paar Heller in die Hand drückte, das daraufhin eilig davongerannt war. "Fildorn, mein Freund!" begrüßte ihn Refardeon in dem für ihn typischen melodiösen Tonfall, der zwischen warmer Vereinnahmung und distanzierter Abschätzigkeit ausbalanciert war, während die Einstellung des Sprechers jederzeit in eine der beiden Haltungen umkippen konnte. "Falls Du ein paar zusätzliche Geschäfte tätigen willst, muss ich Dir sagen, dass es im Augenblick nicht gut aussieht, der Markt ist ziemlich aus dem Gleichgewicht geraten. Aber Du kannst mich nach Novalia begleiten, ich habe gehört, dass die Hylailer gerade einen Laderaum leermachen, und ich bin neugierig zu erfahren, was das wohl sein mag!"

Fildorn fühlte sich unbehaglich bei der Vorstellung, auf dem Weg nach Novalia unweigerlich durch Residencia spazieren zu müssen, zumal die um die Patriziervillen postierten Wachen derzeit reichlich nervös waren. Er wusste aber, dass mehr als ein Büttel der Wache Refardeon in der einen oder anderen Weise etwas schuldig war, weshalb mit ihm an der Seite die Chancen gut standen, ohne Belästigung ans Ziel zu gelangen. Tatsächlich war er in der Stadt als "Autorität" bekannt - nicht im Sinne der öffentlichen Autorität, sondern einer solchen, auf die man bedeutungsvoll anspielte, indem man das Wort mit einer besonderen Mimik akzentuierte. Was in der Praxis nichts anderes besagte, als dass er unter dem einfachen Volk und den Anhängern des Listenreichen beträchtlichen Einfluss mobilisieren konnte. Inoffiziell war ihm sogar der Magistrat zu Dank verpflichtet, weil er vor einigen Jahren seinen Einfluss geltend gemacht hatte, um eine Etablierung tobrischer Banden in der Stadt zu verhindern, die überall, wo sie auftraten, für eine Verrohung der phexischen Gepflogenheiten berüchtigt waren - nach einigen ebenso unaufgeklärten wie geradezu demonstrativ hässlichen Todesfällen unter offenbar sehr speziell ausgesuchten tobrischen Zuzüglern bestand diese Gefahr nicht mehr. Dieses Anerkanntsein, von dem jeder wusste, das aber niemand offen aussprach, zelebrierte Refardeon immer wieder gerne, indem er flanierend die verhaltenen Ehrbezeugungen entgegennahm, mit denen er sogar in Residencia rechnen konnte.

In Novalia herrschte beinahe Volksfeststimmung. Refardeon war darüber nicht weniger überrascht als Fildorn, schickte sich aber sogleich an, der Sache auf den Grund zu gehen, woraufhin Fildorn, der in Novalia fremd war, nichts anderes übrig blieb, als sich ihm anzuschließen. Sie kamen nur bis zur "Karawanserei" genannten Kaserne der bereits in Efferdas ansässigen Seesöldner, wo die Straße von bewaffneten und gerüsteten Söldnern gesperrt war. Es war aber ersichtlich, dass man Zivilisten requiriert hatte, um - offenbar von der Galeere - eine nicht kleine Ladung von Fässern zu löschen, die in den Hof der Kaserne verbracht wurden. Ebenso ersichtlich - aber, da die Söldner sich nicht ausfragen ließen, vorerst nicht erklärbar - war, dass auf vielen dieser Fässer eindeutig der Boronsrabe Al'Anfas abgebildet war. Und schließlich war offenkundig, dass die zyklopäisch geprägte Bevölkerung Novalias mit den angelandeten Hylailern fraternisierte, als ob es sich um einen lang erwarteten Verwandtschaftbesuch handelte. Refardeon wies auf einen älteren, mittelgroßen, leicht untersetzten Mann in repräsentativer Kleidung, der in zyklopäischer Sprache Zivilisten und Söldner zugleich herumdirigierte: "Der da ist Amyntas von Tyrakos, die "Spinne der Thirindar", der ist seit ein paar Tagen Marinaio im Municipal-Kapitanat. Wenn der hier was zu sagen hat, dürfte klar sein, wer uns die Hylailer beschert hat! Bleibt festzustellen, was uns die Hylailer da gerade bescheren! Und warum sie es in Novalia verstecken!"

Auf dem Rückweg nach Sankt Parvenus spürte Fildorn, wie die Wut in ihm aufstieg. Da die Söldner die Verladearbeiten systematisch abgeriegelt hatten, war vorerst nichts weiter zu erfahren, und Refardeons Informanten befanden sich auf der falschen Seite der Absperrung. Er steckte in der Klemme! Auf dem Schwarzen Markt war nichts mehr zu bekommen, das räumlich vom Rest der Stadt durchs Patrizierviertel abgetrennte Novalia erhielt eine zyklopäische Extraversorgung, und seine Schänke würde er morgen Mittag schließen müssen, das hatte Nonica nüchtern und zutreffend eingeschätzt. Er hatte noch zwei Fass Bier im Keller und einen Rest Graupen für ein paar Portionen einfache Grütze. Natürlich verfügte er über einen Privatvorrat für die eigene Familie, der noch etwas länger reichen würde, aber nur, wenn die zweifelhafteren unter seinen Gästen nicht auf die falschen Gedanken kamen. In der Anspannung dieser Tage war es leicht, sich den Leumund eines Geizhalses einzuhandeln, der seine Nachbarn im Stich ließ, und das konnte ein ausreichender Grund sein, um von diesen Nachbarn "geschüttelt" zu werden, bis dabei irgend etwas buchstäblich oder im übertragenen Sinne aus den Taschen fiel. Nun - das würde ihm nicht passieren! Die beiden Fass Bier konnte er dafür noch auf eigene Kosten investieren, und vielleicht auch seinen persönlichen Vorrat an Branntwein opfern, das würde auch Nonica anerkennen. Sobald die Leute in der richtigen Stimmung waren, konnte man sie auf ein Ziel ausrichten. Und wenn Residencia diesem Ziel buchstäblich im Weg stand, dann würden die reichen Säcke vielleicht mal verstehen, dass sie dem Volk etwas anderes bieten müssen als Unvermögen und Gleichgültigkeit.


Blutige Rabenfedern

Fildorn Petrea, in seiner Schenke

Refardeon hatte mit seinen Mitteln dafür gesorgt, dass sich auch Anführer von Gruppierungen in der Schänke einfanden, mit denen Fildorn sonst nichts zu tun hatte: Jovanka Darboneanu, ein Überbleibsel der kurzlebigen tobrischen Banden, als Vertreterin der Gerberstädter Lohnarbeiter und Larecio Piroccoli, ein wortgewaltiger Repräsentant der Schauerleute. Von den zünftisch organisierten Parvenern waren nicht wenige rauflustige Gesellen und Lehrlinge anwesend, einige davon sicherlich mit Billigung ihrer Meister. Die allgemeine Stimmung war erwartbar Unzufriedenheit mit dem Magistrat und über das eigene Nichtstun, seitdem die Speicher der Raloffs leergeräumt waren, und dementsprechend waren die Anwesenden motiviert, den Stadtherren "Dampf zu machen". Außerdem rechneten nicht wenige mit Repressalien seitens des Municipal-Kapitanats, deren Vertreter man vor zwei Tagen aus dem Stadtteil gejagt hatte, was viele Anwesende dazu disponierte, die zuwartende Unsicherheit durch eigene Aktionen zu unterbrechen. Fildorn hatte derweil seine letzten beiden Fass Bier zur freien Verfügung gestellt und, nachdem er auf diese Weise die Aufmerksamkeit und Wohlgeneigtheit seines Publikums gesichert hatte, von seinen Beobachtungen in Novalia erzählt. Refardeon selbst war verschwunden, hatte aber ganz offensichtlich mindestens Larecio Piroccoli für den heutigen Abend instruiert, denn dieser bestätige Fildorns Beobachtung unter namentlicher Berufung auf jenen. "Sollen doch die Zyklopäer ihr eigenes Efferdas gründen, wenn sie nicht mit uns teilen wollen!" dröhnte Larecios Stimme durch die Stube: "Haben sich in den Senat eingeschlichen mit diesen Emporkömmlingen von den Inseln, den Thirindar, und machen jetzt ihre Geschäfte ohne uns!" - "Die Novalier fressen auch ihren Fisch selber, anstatt ihn auf dem Markt zu verkaufen!" empörte sich ein Zwischenrufer. "Stimmt, an der Tintenfischgasse gibt's schon vor der Mittagsstunde nichts mehr!" bestätigte ein weiterer. "Und jetzt lassen sie sich von den Thirindar versorgen, während der Rest von Efferdas hungert!"' nahm Piroccoli den Faden wieder auf. '"Und wisst ihr," fuhr er fort, "an wen vor vier Tagen das Municipal-Kapitanat vergeben wurde? Das Amt, das für die Versorgung der gesamten Stadt zuständig sein sollte? An die Thirindar! Und wisst ihr, welches Amt demnächst unsere Vorräte requirieren wird, nachdem es schon versucht hat, unsere Vorratskammern auszuspähen? Das Municipal-Kapitanat!" Jetzt war im Publikum ein deutliches Murren vernehmbar. Piroccoli erhob seine Stimme, um es zu übertönen: "Ich sage: lasst uns Novalia einen Besuch abstatten und nachsehen, was sie dort vor Efferdas verstecken! Und auf dem Weg dorthin können wir den Thirindar und en anderen Patriziern zeigen, was wir von ihrer Untätigkeit halten!" In der aufgeheizten Stimmung schien es niemanden zu stören, dass von einem Stadtteil von Efferdas so gesprochen wurde, als sei er eine selbständige Stadt. Man hatte die zyklopäischen Einwohner der Stadt und jene, die dem Augenschein zufolge ihre patrizischen Patrone waren, zum Sündenbock der aktuellen Situation gemacht. Fildorn sah mit Erleichterung, dass es seines Zutuns wohl nicht mehr bedurfte, um seinem mißlaunigen Publikum das Ziel seiner Wahl am anderen Ende der Stadt zu empfehlen. Piroccoli und seine Schauerleute schienen entschlossen, die Initiative in ihre eigenen Hände zu nehmen. Als kurz darauf beschlossen wurde, sich im Verlauf der Nacht zu bewaffnen und bei Morgengrauen auf dem Alten Markt zu versammeln, wurde ihm klar, dass er nicht einmal seine Branntweinvorräte würde opfern müssen.

Lyitisanija Thirindar, im Palazzo Thirindar

Als Lyitisanija von ihrem Adjutanten wachgerüttelt wurde, verging ein Augenblick, bis sie ihre Desorientierung überwunden hatte und sie sich erinnerte, wo sie sich befand. Nachdem sie die Überwachung der Verladearbeiten bei Halcas Faktotum Amyntas in guten Händen wusste, hatte sie ihren Kommandoposten im Palazzo Thirindar aufgeschlagen und ihren Söldnern die wohlverdiente Nachtruhe verschafft. Novalia war gedrängt bebaut, sodass sie nur eines ihrer Banner in der normalerweise stark unterbelegten, jetzt aber für die Ladung der "Sienna" vorgesehenen "Karawanserei" zurückgelassen hatte, während die anderen beiden Banner unter freiem Himmel auf den geräumigen Grünflächen von Residencia, genauer gesagt: auf dem Rechteck zwischen der Residenz, dem Palazzo Thirindar und dem Palazzo Salveri einquartiert wurden. Auch wenn es Halca nicht gefallen hatte, hatte eine der ersten Handlungen darin bestanden, auf dem gepflegten Rasen eine Latrine auszuheben, die auf die Bedürfnisse von hundert Söldnern ausgelegt war. Die Truppe hatte sich aus ihren mitgeführten Rationen verpflegt und hatte sich, nach zehnstündigem Rudern rechtschaffen erschöpft, unter freiem Himmel zur Ruhe gebettet. Für die Nachtwachen hatte man kurzerhand Personal des efferdischen Seesöldnerkontingents eingeteilt. "Ploiarchos! Exypne!" Lyitisanija hatte ein Zimmer mit Blick auf die Residenz bezogen, und der Lichtschein sagte ihr, dass der neue Tag im Begriff war, anzubrechen. Ungewöhnlich war nur, dass sich Spuren eines warmen, gelblichen Lichtes wie von Feuer in das Grau der Dämmerung mischten. "Wacht auf, Obristin! Der Demos erhebt sich!" Schlagartig verstand Lyitisanija die Bedeutung der Lichtfärbung: wenn nicht Brände, dann wenigstens Fackeln! Sie sprang aus dem Bett und eilte zum Fenster: unten, auf der Silem-Horas-Straße, sah sie gerade noch das Ende einer improvisiert bewaffneten, mit Fackeln ausgestatteten Prozession am Palazzo Thirindar vorbeiziehen. Die Residenz war unbehelligt, und kein Fackelträger befand sich auf dem Grün. "Die Truppe wird bereits geweckt!", informierte sie ihr Adjutant, während er ihr ihren Lederharnisch entgegenstreckte. "Der Pöbel hat uns übersehen, er zieht direkt zum Onerdi-Tor!" In der abendlichen Lagebesprechung hatte Lyitisanija sich über die räumliche Situation instruieren lassen und war daher über diesen Hinweis im Bilde. Sie ließ sich beim Ankleiden helfen und sondierte dann vorsichtig die Lage. Offenbar hatte der Mob nach einer kurzen Verzögerung vollständig das Onerdi-Tor passiert. "Dilettanten!", Lyitisanija spuckte verächtlich aus. "Die Kaserne wird ihnen lang genug standhalten. Und jetzt nehmen wir sie in die Zange!"

Am Kai von Novalia

Die Wachen am Onerdi-Tor hatten vor dem mit Prügeln, Hämmern, Stangen, Mistgabeln, Messern und sogar einigen Schwertern und Spießen bewaffneten Menschenauflauf unverzüglich das Weite gesucht und sich in das Gebäude geflüchtet, das ihnen unter den gegebenen Umständen am sichersten erschien: die Kaserne der Seesöldner. Was den Nebeneffekt erbrachte, dass die derzeitigen Bewohner des Gebäudes unverzüglich vor der heraufziehenden Gefahr gewarnt waren. Diese heraufziehende Gefahr hatte sich ihrerseits mit dem Problem befassen müssen, dass diejenigen, die sie erschrecken wollten, nämlich die Patrizier von Residencia, sich offenkundig in tiefem Schlaf befanden, weshalb ihre Anführer abzuwägen hatten zwischen einem lautstarken Spektakel zwischen den Palazzos, durch welches ganz Novalia gewarnt gewesen wäre, und einem Überrumpelungseffekt am Onerdi-Tor und innerhalb von Novalia. Die Aussicht auf die Akquisition materieller Werte in letzterem hatte den Ausschlag gegeben, zumal man der Meinung war, sich Residencia auch noch auf dem Rückweg vorknöpfen zu können. Während eine kleine Gruppe spontan die leeren Verkaufsstände auf dem Fischmarkt zertrümmerte, hatte die Masse der Eindringlinge die Kaserne recht schnell umstellt, woraufhin nicht nur Steine gegen die Fensterläden der "Karawanserei" flogen, sondern schnell auch die ersten Fackeln. Der Zugang zur Kaserne wurde von einem verriegelten Tor verschlossen, welchem alsbald mit einer improvisierten Ramme zugesetzt wurde. Ein Stoßtrupp, der versuchte, die "Sienna" zu erreichen, wurde von der Deckswache mit dem Pailos auf Distanz gehalten, während das seemännische Personal das Schiff losmachte und mit ein paar improvisierten Ruderschlägen ins Hafenbecken auf Distanz brachte. Die Deckswache nutzte den letzten möglichen Augenblick, um vom Perimeter auf den Schiffsschnabel zurückzufallen und sich in Sicherheit zu begeben - ein gut eingeübtes Manöver, von dem der irreguläre Haufen am Kai glatt überrascht wurde. Im Hafenbecken war die Galeere zwar in Sicherheit, aber auch von den Aktionen in der Stadt abgeschnitten, denn das Halbbanner Bogenschützen war in der Kaserne stationiert, wo es derweil hinter dem Tor und hinter einer Linie von Infanteristen Aufstellung bezog, falls es dem Mob gelingen sollte, die Verriegelung zu durchbrechen. Dieser Mob wiederum, der bislang nicht manifest mit bewaffneten Soldaten konfrontiert war, unterschied nicht wirklich trennscharf zwischen einem aufrührerischen Protest gegen eine anscheinend unfähige Stadtverwaltung und einer zerstörerischen und potentiell mörderischen Handlungsweise - ganz so, als erwarteten sie hinter einem von ihnen mit Gewalt überrannten Tor eine Audienz des Senats zur Entgegennahme ihrer Beschwerden.

Lochagos Evander, in der "Karawanserei"

Lochagos Evander, Kommandeur der Bogenschützen in der Söldnerkaserne von Novalia, hatte seine Schützenreihe durch eine Barriere von Fässern und eine Zeile von Infanteristen sichern lassen, die auf einem gesenkten Knie den Pailos wie eine kurze Pike führten, um alle Eindringlinge auf Distanz zu halten. Seit einer guten Viertelstunde wurde das Tor mit rhythmischen Rammstößen bearbeitet, die, wie die Beobachter an den höher gelegenen Fenstern berichteten, mit einem am Fischereihafen angeeigneten eichenen Untermast ausgeführt wurden. Das dicke untere Ende mit dem Spurzapfen war robuster als das Tor und würde es bald aus den Angeln heben. Der Querbalken war sehr widerstandsfähig, aber den Angreifern war schließlich aufgefallen, dass die Torangeln der schwache Punkt der Gesamtkonstruktion war, woraufhin sie die von außen gesehen linke Seite des Tors bevorzugt bearbeiteten. Der Erfolg stellte sich innerhalb weniger Minuten ein: zuerst brach die obere Angel aus der Mauer, sehr bald darauf die mittlere, woraufhin sich der obere Teil der beiden über den Querbalken verbundenen Torflügel über die diagonale Achse einwärts senkte und nach ein paar weiteren Rammstößen gänzlich nach innen in den Hof fiel. Der Pöbel jubelte, während sich die aufgeworfene Staubwolke senkte. Während die erste Reihe der Angreifer noch zögerte, um sich zu orientieren, wurde sie von den dahinter Stehenden bereits nach innen gedrängt. Der Torbereich entsprach in der Tiefe der Breite des Gebäudekranzes um den Innenhof, ungefähr acht Schritt, praktisch ein kurzer Tunnel. Als ersichtlich wurde, dass die Angreifer das Ende dieses Tunnels erreichen würden, um von dort aus in den Hof auszufächern, ließ Evander schießen. Ein gutes Dutzend Angreifer ging getroffen zu Boden, aber nur, um von den Nachdrängenden, deren Wut nun in Verzweiflung umschlug, überrannt zu werden. Die Ursache des Nachdrängens war unklar, es schien, als sei die Straße draußen überfüllt und die Eindringlinge am Tor seien nicht frei, zurückzuweichen. So nahm die Tragödie ihren Lauf. Als die Eindringlinge während der zweiten Salve der Bogenschützen erkannten, dass sie keinen Ausweg mehr hatten, begannen sie, mit dem Mut der Verzweiflung die Distanz zu den Schützen zu unterlaufen und sich auf die improvisierte Pikenphalanx zu stürzen, während sich weitere nachdringende Angreifer in die Flanke der Verteidigungslinie voran manövrierten. Improvisierte Wurfgeschosse flogen, die Bogenschützen lösten die Formation auf, um sich gegen die Flankierung zu positionieren, woraufhin die koordinierte Abwehr zusammenbrach. Als die Angreifer erkannten, dass sie die Oberhand gewonnen hatten, schlug ihre Verzweiflung in einen Blutrausch um. Die Seesöldner im Obergeschoss der Kaserne konnten nur noch zuschauen und hoffen, dass die Wut der Angreifer noch im Innenhof der Kaserne verrauchte.

Lyitisanija Thirindar, ebendort

Was sie beinahe übersahen war, dass draußen auf der Straße der Druck nachließ. Genauer gesagt: er floss in Richtung des Hafenbeckens ab. Denn vom Fischmarkt her näherten sich in voller Ausrüstung und, soweit das Straßennetz es zuließ, in geschlossener Formation Dutzende weiterer Seesöldner. Von deren plötzlichem Auftreten war der bewaffnete Pöbel so überrascht, dass seine Moral zusammenbrach. Wer konnte, rettete sich erst zum und sodann ins Hafenbecken. Einigen Flüchtigen gelang es, Fischerboote loszumachen und irgendwie, mit Stangen und Rudern, ohne die Segel bedienen zu können, Distanz zu den Kais zu gewinnen, eine weitere Gruppe, die offenbar nicht schwimmen konnte, versuchte, das Hafenbacken an der äußeren Stadtmauer zu durchwaten, um ins offene Umland von Efferdas zu gelangen. Diese kopflose Flucht, die nur wenigen Ertrinkenden das Leben kostete, verhinderte, dass das Auftreten zweier weiterer Banner von Hylailer Seesöldnern in einem umfassenden Massaker endete. Was Lyitisanija in der Kaserne vorfand, war blutig genug. Die Eroberer des Innenhofes hatten nicht viel Zeit gehabt, sich ihres Sieges zu erfreuen. Als der aus Residencia nachgerückte Entsatz verstanden hatte, dass zwei Dutzend ihrer Kameraden den Tod gefunden hatten, hatte ihnen der kommandierende Lochagos gegen den Rest der vorübergehenden Sieger freie Hand gelassen, und zwischen dem Zerspringen von Fässern und dem Zerschmettern von Schädeln gab es keinen Unterschied mehr. Lyitisanija hatte im Laufe ihres Lebens Schiffszwieback schon in viele Flüssigkeiten eingetaucht, um ihn weich und genießbar zu machen. Im Innenhof der "Karawanserei" von Efferdas aber - und diese Symbolik sollte Lyitisanija ebenso wenig vergessen wie seinerzeit das Gemetzel von Phrygaios - lag das Hartbrot aus den Fässern der "Sienna", geprägt mit dem Boronsraben von Al'Anfa, aufgeweicht in Lachen von Blut. Und das war nur der offensichtliche Schaden. Denn als Nonica Petrea ihren Mann bestattete, schwor sie allen Zyklopäern den Tod, als wären sie Besatzer aus Schwarztobrien.


Autor: di Piastinza