Briefspiel:Roter Mann/Horasios Vademecum

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Datiert auf: Phex 1038 BF Schauplatz: Shenilo und die Ponterra Entstehungszeitraum: ab März 2016
Protagonisten: der Rote Mann, Horasio Madarin ya Papilio, Francidio di Côntris, Dozmano Kaltrek, Ingalfa Dalidion, Ilsandor von Hauerndes, Geronya , Kvalor und Valeran Menaris, Sulman Schattenfels und weitere Autoren/Beteiligte: Athanasius, Calven, Di Côntris, Gishtan re Kust, Randulfio
Zyklus: Übersicht · Vorspiel · Resident und Vogt · Horasios Vademecum · Horasios Verschwinden · Auf der Spur des Roten Mannes · Brand im Kloster Helas Ruh · Erste Entdeckungen · Kriegsrat · Totgeglaubte · Magokrat und Dorén-Halle · Am seidenen Faden · Epilog



Die Briefspielgeschichte Horasios Vademecum behandelt die letzten Eintragungen von Horasio Madarin ya Papilio, dem Residenten seines Hauses in Shenilo, in seinem Tagebuch aus dem Phex-Mond 1038 BF. Der Resident berichtet darin von seinen Erkenntnissen und Vermutungen hinter den Morden auf der Fuldigorsfeste bei Wanka 1035 BF und auf und neben dem König-Khadan-Platz Shenilos drei Jahre später.

22. Phex

Worin Horasio erfährt, dass der Überlebende des Brands im Magierturm abermals verschollen - und nunmehr gar wirklich für immer verloren? - ist.
Der Vorfall ereignete sich nur einen Tage nachdem ich auf dem Boronanger war. Ist man mir gefolgt? Oder sind meine Briefe zur Fuldigorsfeste gelesen worden? Keine Rede vom Gast des Totengräbers, aber Schattenfels? Oh weh!
Ich lege den Bericht des Hesindeblatts in mein Vademecum.

Versuchte Leichenschändung endet blutig!

Farlon Terschlin
Shenilo, 22. Phex 1038 BF
Das boronlästerliche Eindringen eines Maleficanten auf den Boronanger von Shenilo hat frischen Tod auf den Ruheplatz der Verstorbenen gebracht!
Wie heute bekannt wurde, waren in der Nacht auf den 21. Tag des Phex-Mondes von einigen Nachtschwärmern in Porta Pertakia Schreie vom Boronanger vernommen worden. Die Stadtgarde betrat diesen daraufhin und fand eine Leiche und einen Verletzten, bei Letzterem handelt es sich um den Totengräber Sulman Schattenfels. Der Mann, der den Boronanger seit nunmehr eineinhalb Dekaden umsorgt – und bekanntlich auch Henkersdienste verrichtet – wurde mit tiefen Wunden ins Therbuniten-Spital verbracht. Offenbar wollte der Eindringling den Grabschmuck eines Nasuleums der Sheniloer Patrizier plündern. Die geschädigte Familie hat der Gardehauptmann bereits informiert, deren Identität werde aber nicht öffentlich gemacht, so Rondrian Vistelli.
Der Bericht eines Gardisten, wonach es bereits im vergangenen Jahr am gleichen Ort zu einem Einbruch in ein herrschaftliches Nasuleum gekommen ist, wollte Gardehauptmann nicht bestätigen. Auch über die Identität des Toten ließ er nichts weiter verlautbaren, verwies aber auf Nachforschungen in Porta Pertakia. Indes konnten wir erfahren, dass ein Mann, der auf die Beschreibung des Toten passt, vor einigen Tagen in einer der Gaststätten südlich der Stadtmauer gesehen wurde.
Das Hesindeblatt wird die Sache weiter verfolgen.

23. Phex

Worin Horasio beschließt, sich selbst auf die Suche nach Denjenigen oder Demjenigen zu begeben, der hinter Mordtaten und Entführungen zu stecken scheint.
... und das werde auch ich tun. Ich habe mich jetzt dazu entschlossen, trotz aller Gefahren. Das Opfer des Brandes im Magierturm ist mittlerweile vielleicht endgültig tot, ich habe bisher nichts mehr in Erfahrung bringen können. Der Totengräber liegt jedenfalls noch immer im Spital. Es ist zu riskant, ihn besuchen zu wollen. Vielleicht ist liegt er ohnehin im Sterben. Vermutlich wird er überwacht. Nocheinmal werde ich jenes Unheil nicht über andere bringen. Ich muss vorsichtiger sein.
Daher benutze ich mein Vademecum, in das ich sonst nur auf Reisen schreibe. Irgendwo muss ich notieren, was ich erfahre – aber Briefe sind zu gefährlich. Ich verschließe es jeden Abend sorgfältig in einer Truhe, die ich gut verborgen halte. Nur mein Sekretär weiß davon. Ich habe ihm aufgetragen, den Inhalt der Truhe zu versenden, sollte mir etwas zustoßen. Er glaubt, es handele sich dabei um mein Testament. In gewisser Weise stimmt das natürlich auch. Ich lege einen Brief an meine Schwester und meine Base Sharane bei. Vermutlich sollte ich auch eine Abschrift an den Hauptmann der Wache anfertigen – aber mit der Sache auf dem König-Khadan-Platz war Vistelli augenscheinlich überfordert.
Habe mich einstweilen in den Palazzo zurückgezogen und nehme nur die allernötigsten Termine war – alles andere wäre auch auffällig. Ein unterträglicher Zustand.
Aber habe ich nicht den Tod Gregorans mitangesehen, er, dessen Maske nun blut’ge Tränen weint? Und habe ich nicht das Rot auf den Zügen jenes Mimen gesehen, als sie ihm die Maske vom Gesicht rissen? Und war nicht ich es, der die Häscher zu jener versehrten Gestalt auf dem Boronanger geschickt hat? Nein, die Götter haben mich als Zeugen jener Vorgänge auserwählt und ich will nicht aus Furcht die Augen verschließen! Ich will also ergründen, warum eine Maske weint und eine andere den Tod bringt!

24. Phex

Worin Horasio notiert, dass die Maske, die der unglückselige Schauspieler des Kaufmanns von Pertakis an seinem Todestag trug, verschwunden ist; außerdem von Grabschändungen im Nasuleum der Menaris erfährt und von einem mysteriösen Besuch einiger Magier im Palazzo Gabellano berichtet.
Wieder habe ich einen Rückschlag erlitten, als sorge eine unsichtbare Hand dafür, alle Beweise, für das Geheimnis, dem ich auf der Spur bin, aus dem Weg zu schaffen. Die Maske des Mimen, der den Kaufmann von Pertakis, gegeben hat, die man ihm mitsamt dem Antlitz vom Kopf gerissen hat – sie ist verschwunden!
Dabei war es schwierig genug, mit der Stadtgarde in Kontakt zu kommen. Ein direkter Besuch auf dem Yaquirstein scheint mir immer noch zu gefährlich. Daher habe ich mich mit einem Gardisten im Spielsalon Mondlicht getroffen, wo ich ihn schon manches Mal gesehen hatte. Es bedurfte einigen Würfelpechs und einer größeren Menge guten Rotweins, den Mann zum reden zu bringen.
Offenbar ist die Maske bereits in den Stunden nach dem Aufruhr vom 17. Boron des vergangenen Jahres verschwunden. Ich hatte mich damals bereits selbst im Theater umgesehen. Alles war in Stücke geschlagen worden. Kurz danach hatte ich den Aufruf verfasst, man möge doch dem Theater einen anderen Namen geben. Die Maske habe ich damals nicht gefunden, habe aber immer geglaubt, die Stadtgarde hätte sie mitgenommen. Dem ist nicht so. Man glaubt an Plünderer. Ich werde mich aber nicht so leicht geschlagen geben. Mein Haus hat gute Kontakte zu jenen, die wiederum Leute kennen, die vielleicht Geld für eine gut gefertigte Bühnenmaske zahlen würden.
Ich wäre schon fast vom Tisch aufgestanden und hätte den Salon Mondlicht hinter mir gelassen, als mir etwas einfiel. Ob es denn stimme, dass im letzten Jahr bereits einmal ein Nasuleum Opfer von Grabschändern geworden sei, fragte ich den Gardisten. Der Mann war schon fast in Bishdariels Gefilde hinübergesunken, aber er nickte und murmelte den Namen des Hauses, das dergestalt Opfer von Boronfrevlern geworden war – Menaris.
Hätte ich das nur bereits geahnt, als ich selbst mit jener Gestalt auf dem Boronanger sprach!

Zum Glück ist die Totenmaske Gregorans noch an Ort und Stelle. Ich muss versuchen, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Ich habe Alrico nochmal zum Palazzo der Gabellano geschickt, um sich mit Meister Varese zu unterhalten. Offenbar gab es keine besonderen Vorkommnisse an jenem Tag, als die Maske blutete – bis auf einen Besuch vom Institut! Vier Zauberkundige, der Patriarch der Menaris und sein Vetter Valeran eine Frau namens Arkenstab und dieser kränkelnde Nostrier Ingvalidion haben Signore Gabellano besucht. Ob das etwas mit den Tränen der Maske zu tun hatte?
PHE sei jedenfalls gepriesen, dass ich das erfahren habe, bevor ich den Brief an das Institut schrieb. Ich hatte nämlich erwogen, die dortigen Magister in die Untersuchung der Maske hinzuziehen. Ich werde mir einen anderen klugen Kopf suchen müssen. Kenne immerhin eine Magierin aus jenen Tagen auf der Fuldigorsfeste!

25. Phex

Worin Horasio mit Isonzo Manzanares Kontakt aufnimmt, der den verschwundenen Masken auf die Spur kommen soll.
Ich habe mich mit Yaboc, dem Oberhaupt der Presser getroffen. Etwas anderes, als ein persönliches Treffen wollte er nicht, auch wenn ich in dieser Sache das Gut nur ungern verlasse. Ich fürchte, der Mann grollt uns immer noch wegen dem Tode des unseligen Goboneo. Wiewohl er nichts dergleichen sagt. Aber seine Blicke gefallen mir nicht. Sei es wie es sei, es gibt weit gefährlichere Mächte, deren Atem mir im Nacken sitzt. Vor Yaboc fürchte ich mich in diesen Tagen wenig. Er wird seinen Platz bald genug wieder erkennen. Er hat mir immerhin den Namen eines Diebefängers genannt:
Isonzo Manzanares. Der Mann ist ein ehemaliger Tempelgardist und hat sich auf Leibwächterdienste spezialisiert. Und darauf, verschwundene – freilich vor allem wertvolle – Gegenstände zu finden.“ Yaboc gab mir einen kleinen hölzernen Apfel, den ich zwischen zwei Steinen in der Umfassung des Umbracorsbrunnens verstecken soll, um den Kontakt aufzunehmen. Ich werde gleich losgehen und das erledigen.

26. Phex

Worin Horasio ein Schreiben aus Helas Ruh erreicht, wo sich die Magierin Geronya in unruhigem Schlafe liegt
Muss gleich die Feder beiseitelegen und mich umziehen. Es gilt den Diebefänger zu treffen. Vielleicht bringt er Neues ans Licht? Zuvor noch einige Gedanken.
Ich habe einen Brief von Rahjada erhalten. Sie wird in Ramáud weitere Aufgaben übernehmen. Das brachte mich darauf, in ihrem Namen einen Brief an Geronya Madalina Menaris aufzusetzen. Ich habe zuerst mit mir gerungen. Kann man einer Menaris vertrauen? Immerhin waren ihr Vater und ihr Vetter auch im Palazzo der Gabellano, als die Maske zu weinen begann.
Aber mir fiel wieder ein, dass sie seit Jahren kaum noch in Shenilo weilt, sondern in Vinsalt oder im Kloster Helas Ruh ihren Forschungen nachgeht. Rahjada hat mir einmal sogar berichtet, dass die Signora Geronya eine besondere Begabung für den Blick auf die arkane Sphäre haben soll. Also bat ich sie um ein Treffen im Palazzo, „um sich über vergangene Erlebnisse und gegenwärtige Aufgaben zu unterhalten.“
Sicher würde sie mir mit Gregorans Maske helfen können, wenn ich schon die andere nicht fand? Ich habe kaum ein Auge zugetan, seit mich die Antwort aus dem Kloster erreichte.

Haldoryn gen Palazzo Papilio

Hochgeborene Signora Rahjada
Als behandelnder Medicus und Alchimicus der Signora antworte ich an ihrer statt. Bedauerlichweise hat die Collega Geronya sich mit der morbus somnia infizieret, die es ihr unmöglich macht, sich mit Euch, Hochgeboren, zu treffen. Sobald sich ihr Zustand entscheidend verbessert, werde ich Euch gewisslich schreiben. Hesinde mit Euch
gez. Haldoryn Ingvalidion, Magus

Es stand im Hesindeblatt, dass Geronya einen Schwächeanfall erlitten habe, bei einem Besuch in Shenilo. Aber das ist schon einige Wochen her! Nun soll sie an einer seltenen Krankheit leiden, die sie ans Bett fesselt? Und es behandelt sie einer jener Männer, die den Palazzo Gabellano besuchten? Ich kann die düstere Hand meiner Gegner überall sehen.

Am gleichen Tage, abends

Worin Horasio Kenntnis von einer weiteren verschollenen Maske erhält, diesmal das Antlitz eines di Côntris
...kehre gerade zurück von meinem Treffen mit dem Manzanares. Ein gefährlicher Mann, kein Zweifel. Gepflegter Bart und wilder Blick. Aber irgendwas an ihm gefällt mir. Ich habe ihn gut entlohnt. Vielleicht werde ich ihn selbst einmal anheuern müssen.
Was er mir gesagt hat, ist jetzt wichtiger. Er sucht bereits nach einer Maske! Offenbar ist das Antlitz des Kaufmanns nicht die einzige Holzlarve die Begehrlichkeiten geweckt hat. Manzanares sucht für einen Diener des Raben namens Barolo die verschwundene Totenmaske eines Signors von Côntris. Es ist ebenfalls verschwunden, verschwunden aus dem Nasulem der di Côntris am Yaquir – und zwar seit kurz vor dem Besuch Alessandro ya Ilsandros in Shenilo im Boron-Mond des vergangenen Götterlaufs. Zwei verschwundene Masken also. Und dann ist da ja noch der erste Einbruch im Nasuleum der Menaris – ebenfalls im letzten Jahr. Ich habe ihn gebeten, nach Pertakis zu reisen, um mehr über diese Dinge in Erfahrung zu bringen. Das alles kann kein Zufall mehr sein.

27. Phex

Worin Horasio die Besitztümer des unglücklischen Schauspielers untersucht, der im Theater Zur Maske starb und darunter ein Gedicht über einen Kinderschreck findet...
Ich habe endlich wieder das Theater Zur Maske besucht – das erste Mal, seit jenen schrecklichen Stunden. Ich wähnte mich sicher unter all jenen, die durch Studiora strömten. Nun bin ich mir nicht mehr sicher...
Es war eine besondere Vorstellung für ein paar Silberlinge. Offenbar versucht das Theater den Ruch der Gewalt loszuwerden – das Stück war eine seichte Angelegenheit, aber ich war ohnehin nicht deshalb dort. Ich nutzte die erste Unterbrechung, um den Mann aufzuspüren, den ich sprechen wollte. Die Pressers hatten Recht, was den Besitzer des Theaters betrifft – ein Zwerg!
Er glaubte wohl, ich wollte ihm noch einmal wegen des Namens „Zur Maske“ zu Leibe rücken. Musste ihm versprechen bei Gelegenheit beim Hesindeblatt eine Gegendarstellung zu verfassen, damit er mir hilft, mehr über den Schauspieler zu erfahren, der in der Maske des Kaufmanns von Pertakis den Tod fand. Der Mann, der auf den Namen Aries hörte, war augenscheinlich erst seit ein paar Wochen in Shenilo und hatte sich in einem Lagerraum des Theaters eingemietet. Als ich die Kammer sehen wollte grinste mich der Zwerg nur schief an und gab mir ein Brecheisen. „Ich musste den Raum zunageln, nachdem einer der Bühnenbauer einen...Unfall hatte, als er da unten nach dem Rechten sehen wollte.“
Als ich fragte, was für einen Unfall der Mann erlitten habe, machte der Zwerg nur eine Bemerkung darüber, dass die neugierigen Blicke des Mannes jetzt niemanden mehr belästigen würden.
Das ist alles wahnwitzig geworden. Aber ich war schon so weit gekommen und droben lief das Stück noch. Ich wollte es nicht riskieren, das Theater als einziger so früh zu verlassen, falls mich doch jemand beobachtete. Also stieg ich hinab. Der Raum roch nach abgestandener Luft, offenbar ist er wirklich seit einem halben Götterlauf nicht mehr betreten worden. Dieser Aries schien wirklich nicht besonders anspruchsvoll gewesen zu sein. Eine Truhe mit Kleidern, ein Ankleideschrank und hinter einem schief an der Stange hängenden, zurückgezogenen Vorhang ein strohgefülltes Bett. Und ich war offenbar nicht der erste gewesen, der hier unten war, wie ein Kleiderberg vor der Truhe, offenstehende Schubladen im Ankleideschrank und ein umgeworfener Schemel verrieten.
In der Ecke war ein hölzernes Gestänge aufgebaut worden, das ich erst für einen Hut- oder Kleidungshalter hielt. Aber die Querstange war voller Kratzer und auf dem Boden fand ich Federn. Schwarze Federn. Vermutlich halten sich manche Mimen Tiere für ihre Auftritte?
Ich ging durch die Schubladen des Ankleideschranks, blickte unter das klapprige Bettgestell und durchwühlte die Kleidung des Mannes. Alles in allem wirkte sein Besitz eher wie der eines reisenden Zahnreißers als eines Schaustellers: Kleinere Messer, Zangen, Kräuter, sogar eine Reihe von zugekorkten Flächschen.
Aber nichts, das mir weiterhalf. „Wenn man nicht weiter weiß, hilft es manchmal, sich hinzusetzen und nichts zu tun.“ Das hat mein Vetter Baran mir mal gesagt. Aber so hat er es sicher nicht gemeint: Ich setzte mich auf das Bett, frustriert von den letzten Minuten sinnloser Suche und bedrückt von den letzten Tage benruhigender Vorkommnisse. Nach einer Weile fiel mein Blick auf den Vorhang, der halb heruntergerissen an seiner Stange hing. Auch ein Werk des Bühnenbauers?
Jetzt erst, vom Bett aus, konnte ich erkennen, dass etwas von innen an den Vorhang gefädelt war. Nach kurzem Zögern erhob ich mich, richtete die Stange und zog den Vorhang wieder auf. Jemand hatte ein abgegriffenes Stück Pergament an den Stoff genäht, direkt am Kopfende des Bettes. Ich straffte mich und rollte es auf. Was ich fand war ein Kinderreim aus meiner Jugend.

Horasios Abschrift des Kinderreims über den Roten Mann

Sein Auge finster, sein Mantel rot,
dem Leben entrissen, trotzt er dem Tod.

Drunten im kalten Nass, fern vom Licht,
Wacht Tag und Nacht ein fahl Gesicht.

Den Eitlen, der sich das Barthaar richt‘
Die Müß’ge, die sich Zöpfe flicht,

Euch alle find’t sein starrer Blick,
schon windet, würget euch sein Strick!

tropfen rote Tränen jäh hinab
vom Antlitz, das er riss ins Grab

Durchfähret Furcht deine Glieder dann,
So ist er nah, der Rote Mann!

Drum such‘ ein sich’res Versteck geschwind,
sonst raubt er dir die Seel‘, mein Kind.


Vor zwanzig Jahren stab meine Amme, eine Frau deren runzliges Gesicht mit den eisgrauen Locken mir noch heute vor Augen steht. Sie war schon für die Erziehung meiner Mutter zuständig und angeblich auch für die meines Großvaters Isadore vor ihr. Ich mochte sie nicht besonders, weil sie mir immer erzählte, was ich dürfe und was ich nicht dürfe. Und manchmal garnierte sie ihre Anweisungen und Belehrungen mit einer Geschichte über ungehorsame Kinder und was ihnen angeblich blüht. Sie hat mir – da bin ich sicher – auch mal vom Roten Mann erzählt. Sie hat immer gesagt, dass das kein Kindermärchen wäre, sondern der Rote Mann einst ein Verbrecher gewesen sei, der nach seiner Hinrichtung auf Rache sinnt. Ich hatte das alles längst vergessen. Aber drunten, in der verlassenen Kammer des toten Mimen, konnte ich mich wieder an das Schaudern erinnern, mit der mich die Geschichte damals erfüllte.
Danach blieb ich gerade noch lang genug, bis ich hörte, wie oben der Applaus anschwoll und die ersten Gäste das Theater verließen. Rasch mischte ich mich unter sie und eilte gen Palazzo.
Auf dem Weg nach Hause hatte ich das unbestimmte Gefühl, das mich jemand beobachtete – also hastete ich durch die Nebenstraßen, um einen Verfolger abzuschütteln, aber niemand war hinter mir. Das Gefühl begleitete mich dennoch bis hierher. Einmal dachte ich, die Blicke kämen vom First eines Daches in meinem Rücken, aber dort saß nur eine Krähe und putzte sich das Gefieder. Ich eilte dennoch die letzten Schritte zur Pforte des Palazzo, so schnell es ging.
Ich werde den Palazzo einstweilen nicht mehr verlassen. Habe einen der Presser hierhergebeten, um draußen im Garten zu übernachten – mit einem Kurzschwert an seiner Seite – das sollte mich sicherer machen.
Ich habe das Pergament dagelassen. Einer der Sätze geht mir nicht mehr aus dem Kopf: tropfen rote Tränen jäh hinab, vom Antlitz, das er riss ins Grab.
So wie die Totenmaske Gregoran Gabellanos Blut weinte? War der Mime hinter dem gleichen Übel her, das mich auch in dieser Nacht kaum ruhen lässt? Und hat er den höchsten Preis für seine Suche gezahlt? Irsinn. Irrsinn, das alles.

29. Phex

Worin Horasio erfährt, dass auch im Hause di Pertakir eine alte Totenmaske gestohlen worden ist; und zu vermuten beginnt, dass es einen Zusammenhang zwischen den Maskenmorden und der Gestalt aus dem Kinderreim gibt.

Habe einen Brief aus Pertakis erhalten. Manzanares hat mit Vetter Praiondrian gesprochen. Ursprünglich glaubte ich, dass er etwas über die Maske aus Côntris erfahren würde. Immerhin geht mancher Dieb oder Diebehändler nicht mit seinen Sünden zum Phex-Tempel, um Lob, sondern zum Praios-Tempel, um Vergebung zu erlangen. Stattdessen berichtet er aus einer Signoriasitzung in der Yaquirstadt. Dort habe erneut Endigo, das neue Oberhaut des Hauses di Pertakir, zu einer militärischen Lösung des Konfliktes mit Shenilo aufgerufen.
„Im Namen meiner Mutter Saggia, soll er geschworen haben, „werden wir es meiner Vorfahrin Yaruma gleich tun und das Übel aus Shenilo niederwerfen!“
Immer noch zürnt er über den Tod seiner Mutter Saggia. Schrecklich, dass das Blut, das am Khadan-Platz vergossen wurde, einigen noch immer nicht ausreicht. Was die Aufmerksamkeit des Diebefängers erregte – und mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagt – war die Erwiderung des Gransignors Alessandro ya Ilsandro, die einen kleinen Skandal ausgelöst haben muss. Nicht nur habe Yaruma damals ein schreckliches Ende in der Bärgengrube der Orsofinen gefunden, so ya Ilsandro, sondern ihr Leib sei kürzlich von Tieren verschlungen worden – samt ihrer Totenmaske!
Yaruma war bekanntlich eine der drei Kontrahentinnen, die während der Kusliker Krise um die Macht zwischen Arinken und Pertakis gerungen haben. Di Côntris, Menaris und nun di Pertakir. Unbekannte dringen in die Grabstätten der drei Häuser ein. Und kurz danach verbrennen die Menaris und Aufrührer erschlagen den greisen Lysadion di Côntris und die eiserne Saggia di Pertakir.
Alte Totenmasken für jedes prominente Opfer während des Gransignorsbesuchs?
Und Masken weinen blutige Tränen.
tropfen rote Tränen jäh hinab, vom Antlitz, das er riss ins Grab?
Muss versuchen, mehr über die anderen verschwundene Masken herauszufinden.

30. Phex

Worin der sich beobachtet fühlende Horasio von unangenehmen Träumen berichtet

Heute Morgen war der Mann, den ich im Garten hatte, nicht mehr da. Die Diener sagten, er sei in der Nacht aufgebrochen „um zu spielen“. „Sicher mit Eurem Silber!“ Ich verstehe ja, dass sie an der Ehrlichkeit eines Presser zweifeln, aber ihm tun sie unrecht, fürchte ich. Er hatte noch keinen einzigen Heller von mir bekommen!
Ich hatte kaum Zeit, mich darum zu kümmern. War noch ganz mitgenommen, von dem Traum, den ich heute Nacht hatte.
Eine Gruppe Gesichtsloser jagte – nein zerrte – mich durch ein Waldstück. Irgendwas hinderte mich daran, zu fliehen. Ich weiß noch, dass sie mich ins Wasser stießen, in einen Brunnen, einen Teich oder einen See und die Gestalten fluchten auf mich und lachten, als ich zu versinken begann.
Irgendwie habe ich den Eindruck, dass mir der Traum bekannt ist. Aber das ist bei Träumen häufig der Fall.
Ist es nicht so?


Später am gleichen Tage

Worin Horasio die Geschichte der Domäne Pertakis durchblättert und neuerlich auf die Pertakischen Landherrenhändel stößt

Ich habe mir den Shenilischen Adelsspiegel kommen lassen – gut, dass wir damals ein Exemplar beschafft haben – und will dort einmal Genaueres nachlesen.

Randnotizen Horasios

Letzte Beerdigung eines Menaris-Patriarchen im Hesinde-Tempel – 824 BF
Danach werden alle im Nasuleum beerdigt. Wenn eine Totenmaske aus dem Nasuleum geraubt worden ist, muss sie einem der folgenden Patriarchen gehört haben:

  • Silem (882 BF, sein Bruder herrschte während der Landherrenhändel in Shenilo)
  • Niobarn (verschollen, vulgo keine Maske)
  • Cereborn (verschollen, vulgo keine Maske)
  • Madalina (983 BF)
  • Esindio (1033, erst jüngst beigesetzt, Maske ist womöglich noch im Palazzo Carolani zum Totengedenken)

Noch später am gleichen Tage

Komme mir vor, als würde ich auf Inrah-Karten starren, die jemand vor mir ausgebreitet hat. Und ich beginne zu begreifen, wofür die Karten stehen!
Heute hat jemand das Böse aufgedeckt.
Welchem Übel bin ich hier auf der Spur? Oh‘ all Ihr Zwölfe, steht mir bei.

Randnotizen Horasios

Patriarchen der di Côntris. Sind ähnlich wenige – werden so alt, siehe "Maru" Lysadion. In den letzten zwei Jahrhunderten:

  • Myero (811 BF)
  • Tsafan (823 BF, starb während der Landherrenhändel)
  • Tancred (885 BF, stützte Yaruma di Pertakir)
  • Haldur (957 BF)

Am gleichen Tage, tief in der Nacht

Letzter Eintrag; Horasio beschließt, dem Roten Mann zu seinen Ursprüngen zu folgen.

Durchfähret Furcht deine Glieder dann, das will ich nicht leugnen. Aber ich werde mich nicht verstecken, wie es der Reim fordert.
Schon wieder die Landherrenhändel vor zwei Jahrhunderten. Ist er nah, der Rote Mann..?
Ich muss Gewissheit haben. Das alles kann noch immer meinen Alpträumen entsprungen sein. Oder eine Intrige, um Shenilo und Pertakis ins Chaos zu stürzen?
Ein Theaterstück, alle zu narren? Oder ist er selbst Autor und Hauptfigur?
Habe alles für meine Abreise bereit gemacht. Briefe gehen an Rahjada und Sharane, in Eile nur einige Seiten kopiert mit wichtigsten Inhalten.
Ich muss einfach wissen, ob er noch dort liegt, wo sie ihn einst gebunden haben. Dieser Spuk muss ein Ende haben – so oder so.

Die Geschichte wird hier fortgeführt: Horasios Verschwinden