Briefspiel:Roter Mann/Auf der Spur des Roten Mannes

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Sheniloneu3k klein.png Briefspiel in Shenilo Sheniloneu3k klein.png
Datiert auf: Phex 1038 BF Schauplatz: Shenilo und die Ponterra Entstehungszeitraum: ab März 2016
Protagonisten: der Rote Mann, Horasio Madarin ya Papilio, Francidio di Côntris, Dozmano Kaltrek, Ingalfa Dalidion, Ilsandor von Hauerndes, Geronya , Kvalor und Valeran Menaris, Sulman Schattenfels und weitere Autoren/Beteiligte: Athanasius, Calven, Di Côntris, Gishtan re Kust, Randulfio
Zyklus: Übersicht · Vorspiel · Resident und Vogt · Horasios Vademecum · Horasios Verschwinden · Auf der Spur des Roten Mannes · Brand im Kloster Helas Ruh · Erste Entdeckungen · Kriegsrat · Totgeglaubte · Magokrat und Dorén-Halle · Am seidenen Faden · Epilog



Leophex von Calven, Shenilo, in einer Gasse Studioras, 3. Peraine 1038 BF

Worin sich Ascanio und Leophex von Calven, Vater und Sohn, Schriftsteller und Advocatus, sich aufmachen, um im Palazzo Carolani der Vergangenheit nachzuspüren.
Erst das dritte Klopfen nahm er bewusst wahr. Das viel zu grelle Licht des Frühlingstages blendete Leophex von Calven, als er die Augen aufschlug. Er fuhr hoch – und sank im nächsten Moment wie vom Donner getroffen wieder zu Boden.
Sein Kopf war wuchtig gegen das prächtige, etwas protzige Schreibpult geknallt, das er sich von einem letzten Honorar geleistet hatte. Sein Kopf dröhnte, und Leophex wusste nicht, ob dies an seinem Missgeschick mit dem Pult oder am Rotwein lag, dessen Reste aus einem nun umgestürzten Becher zum Boden tropften. Das Liegen auf dem Boden hatte das Seinige getan. Abermals klopfte es, diesmal heftiger. Heute hatte er keinen Klienten erwartet.
Der junge Advokat erhob sich mühsam und warf sich mühsam die nötigsten Kleider über. Nicht alle Teile hatte er in der kurzen Zeit finden können und er schwankte leicht, als er die Tür öffnete.

Überrascht blickte er seinem Vater ins Gesicht. Der musterte Leophex erschrocken, blickte dann über Leophex' Schulter in das Zimmer, in dem sein Sohn seiner Profession nachging. Ascanio erblich, als er des heillosen Chaos' aus Schriftstücken, Glas und Kleidungsstücken gewahr wurde.

„Mein Junge, wurdest Du überfallen?“
„Wie? Ich...“

In diesem Moment hörte man ein ausgiebiges Gähnen aus dem Rauminneren. Ascanio blickte Leophex fragend an.

„… ich, äh, habe Besuch.“

Der ältere Herr musste kaum merklich schmunzeln, als er begriff. Dann jedoch wurde er wieder ernst: „Du wirst diesen Besuch nun verlassen müssen. Ich brauche deine Begleitung, und zwar jetzt.“

Leophex öffnete den Mund, um Widerworte zu geben, doch Ascanio zischte:

„Es geht um deinen Freund, ya Papilio.“

Da nickte Leophex. Selten zuvor hatte er Ascanio so entschlossen gesehen. Zudem war ihm trotz seiner derangierten Verfassung aufgefallen, dass Ascanio seinen alten Degen gegürtet hatte, der schon seit Jahren nur über dem Kamin hing. „Gut, lass uns gehen.“
„Wir sind zwar in Eile, aber ich will nicht mit einem… Landstreicher gesehen werden. Kleide dich vernünftig an, dann sehen wir uns zur Mittagsstunde vor dem Tor des Rahjatempels.“ Leophex war verwirrt: „Du willst in den Göttinendienst?“
„Nein, danach sehen wir weiter. Und geopfert hast du ihr ja wohl schon.“

Der Ältere nickte knapp, blickte sich sichernd die Gasse entlang und wandte sich um.

So hörte er nicht mehr, wie Leophex' Besuch sanft in dessen Ohr flüsterte: „Ein Opfer mehr wird die Göttin sicher nicht verärgern...“
Und der junge Calven, der sonst nicht als Frömmler bekannt war, vermochte diesem Argument nichts entgegen zu setzen.

Ascanio von Calven, Shenilo, Palazzo Carolani, 3. Peraine 1038 BF

Worin die beiden Calvens Zugang zum Archiv der Magierfamilie verlangen - und erhalten
Der Turm aus rotem Stein ragte vor Ascanio von Calven auf, als er den Innenhof des Palazzo Carolani betrat. Auf seiner Spitze streckte eine tote Blutulme ihre schwarzen Äste gen Himmel. Einige Stellen im Stein verrieten noch Spuren des Feuers, das hier Feinde der Menaris vor über fünf Jahren gelegt hatten und das auch die alten Bäume auf dem Wehrgang verbrannt hatte. Für Ascanio sah es an diesem Morgen aus, als greife eine knorrige, schwarze Hand nach dem Firmament. Eine schwarze Hand in einem roten Ärmel...
Ascanio schüttelte den Gedanken ab und trat, begleitet von seinem Sohn, auf den mit Steinen ausgelegten Pfad zum Wohnturm des Palazzo. Hier hatte sich einiges verändert. Drei Gestalten mit ledernen Westen und langen Dolchen am Gürtel – eine trug gar ein Schwert – würfelten auf einer steinernen Bank. Hier, inmitten der Buchsbäume, die meist in Form irgendwelcher arkanen Tiere geschnitten gewesen waren, hatte Ascanio früher manche Partie Rote und Weiße Kamele mit seinem Freund Tankred gespielt. Jetzt saßen Bewaffnete im Gras, ein Speer lehnte achtlos im Baum. Das Tier, ein Einhorn, war nicht mehr gut zu erkennen. Tankred hatte immer Dukaten übrig, um den Gärtner zu entlohnen. Ascanio seufzte. Vermutlich verwendete sein Bruder diese Dukaten nun für Leibwächter.
Und noch etwas war anders. Ascanio merkte es erst, als er den Vorhof bereits überquert hatte. Es ist so ruhig. Das Scherzen der Mercenarii hatte ihn zunächst davon abgelenkt. Aber früher hatte man im Vorgarten des Palazzo stets das Zwitschern der Eisvögel gehört. Ascanio blickte sich um, sah aber auch nirgends einen der Vögel in den Ästen oder Büschen sitzen. Da öffnete sich die Tür am Fuße des Turmes und Valsinian Siltalenis blickte die beiden Calvens an.
„Signore Ascanio. Signore Leophex. Welch angenehmer Besuch, doch gleichzeitig so überraschend...“
Ascanio nickte freundlich und war offensichtlich bemüht, von den Bewaffneten nicht gehört zu werden, als er anfing: „Mittlerweile sind meine Besuche heute eine Überraschung, Meister Siltalenis, leider. Ihr wisst selber, dass ich früher oft den Park des Palazzo aus dem Fenster heraus bewundern konnte, wenn ich mit Signore Tankred im studiolo saß. Bessere Tage! Aber wir müssen mit den Tagen leben, die da kommen. Meinen Sohn kennt ihr bereits.“
Der so Vorgestellte, mittlerweile von respektablerem Äußeren als zwei Stunden zuvor, merkte verwundert, wie aufgeregt sein Vater zu sein war.
„Ich habe auch schon den Grund für mein Kommen angesprochen: Meine Zusammenarbeit mit Signore Tankred. Gut, dass wir Euch als Zuständigen hier gleich treffen und uns nicht erst einmal mit widerspenstigen Domestiken herumschlagen müssen. Ich gedenke sein Andenken zu ehren und die Annales, die wir gemeinsam begonnen haben, fortzusetzen. Um dies zu können, muss ich allerdings das Archiv der Menaris in den Kellern aufsuchen. Mein Sohn begleitet mich, da meine Augen im Halbdunkel nicht mehr so gut sind, als dass ich hinreichend schnell arbeiten könnte.“

Einige Zeit später

Worin die Suchenden Hinweise auf den Namen "Roter Mann" in einem alten Geschichtswerk finden
Ascanio blickte noch eine Weile auf den Buchdeckel auf dem speckigen Lesepult vor ihm, nachdem die schlanke Dienerin gegangen war, die sie auf Geheiß des Majordomus hinabgeführt hatte. Rechts und links von ihm standen die Regale, Schritthoch mit Büchern belegt. Leophex schlenderte dazwischen umher, den Kopf in den Nacken gelegt.
„Unten stehen die dicken Folianten, bevor dann Quart- und Oktavbände kommen...und ganz oben“... der Advocat holte sich einen Schemel heran und leuchtete mit seiner Kerze in Richtung der Decke, „ja, da sind die Duodezbände.“ Leophex pfiff durch die Zähne. „In der Stadt des Lichts oder der Bibliothek Kusliks wird’s nicht ordentlicher sein.“
„Weißt du, wonach wir suchen, Vater?“
Ascanio brummelte und schob die Kerze näher an den Band, den Siltalenis benutzt hatte, um die Geschichtswerke, nach denen Ascanio gefragt hatte, ausfindig zu machen. „Wir brauchen Lagerbücher, fürchte ich. Ich werde danach suchen, während du in der Ausgabe von Awaltyrias „Kurzer Geschichte des Landes an der Brücke“ suchst.“ Ascanio wies seinem Sohn das Regal, wo der entsprechende Verweis sein musste. „Vielleicht hat ja irgendein Menaris dort mehr notiert, als in meiner Ausgabe zu finden war.“ Leophex machte sich daran, den Auftrag Ascanios zu befolgen, während dieser eine Reihe von alten Folianten mit muffig riechenden Seiten zu wälzen begann. „Und, Sohn, eile dich. Der Majordomus hat zwar davon gesprochen, dass Patriarch Kvalor beim Gransignore Randulfio weilt, aber er ist ja nicht der einzige Menaris in diesem Gebäude!“ Leophex nickte und eilte zum Regal hinüber, strich über die Buchrücken und suchte den Band, den ihm sein Vater genannt hatte. Er hatte ohnehin den Eindruck gehabt, dass Majordomus Siltalenis sie beide nur durch Ascanios Hinweis auf den verstorbenen Tankred Menaris in die Archive hinabgelassen hatte.
Nach einiger Zeit der Suche – Ascanio hatte inzwischen die Jahre 825 bis 830 durchgeblättert – stieß sein Sohn die Luft aus und griff nach dem Ärmel seines Vaters. „Hier, das muss die Stelle sein...

Auszug aus Awaltyria de Maltris' "Geschichte des Landes an der Brücke"

Worin die Rede ist von einem Porträt des Magokraten von Shenilo, der offenbar gerne ein rotes Gewand trug
...in seinem Wahn aber ließ er sich noch vor dem – Boron-sei-dank frühen – Ableben ein Porträt anfertigen, wie es nur Patriarchen seiner Familie zukommt. In schrecklicher Pracht thronte er auf einem Scherenstuhl, auf den Stab gestützt und ganz in sein rotes Beherrschungsgewand gehüllt. Das Bildnis mag noch heute irgendwo in den tiefsten Kellern des Torre Carolani verborgen sein.


Ascanio nickte. „Ja, das ist genau die Stelle. Steht da noch mehr?“
„Warte einen Augenblick.“ Er schlug die Seite um, runzelte die Stirn. „Hier hat jemand etwas durchgestrichen!" und fuhr dann fort:


So nimmt es denn nicht Wunder, dass sich am Ende, als Gransignora Yaruma ihm Tsafan di Contris auf den Hals setzte, angeblich sogar sein eigener Bruder von ihm abgewendet haben soll. So starb der Magokrat mit Eisen um den Hals inmitten seiner zaubernden Kumpane statt sicher in den armen seiner Familie und hinter den Mauern des Palazzo zu verweilen.


„Jemand hat hier einige Stellen weggekratzt, dort, wo die Namen standen.“
Ascanio beugte sich über den Folianten. „Das ist nicht die gleiche Feder, die Durchstreichungen sind später gemacht worden.“ Vater und Sohn blickten einander an. Leophex räusperte sich. „Wer glaubst du, war das?“
Leophex erstarrte, als er den Gesichtsausdruck seines Vaters sah. Schritte auf der Treppe. „Da kommt jemand.“ Ascanio griff nach seiner Hüfte, aber das alte Rapier hatte der Majordomus oben einer der Wachen übergeben – in den Archiven der Menaris drohe keine Gefahr...Er hielt die Luft an.
Es war aber nicht die Tür, durch die die beiden Calvens in Begleitung des Majordomus die Archive betreten hatten, die sich öffnete, sondern eine schmalere zwischen zwei Bücherregalen zur Rechten der beiden Männer.
Als sich die Tür öffnete, erkannten die beiden Calvens die schlanke Dienerin, die sie schweigsam hinabgeführt hatte, im Licht der Kerze, die sie trug.
„Rasch, der Magister hat von Eurer Gegenwart erfahren!“ Ascanio blickte verdutzt drein, als die Frau sich näherte und das Buch zuschlug, aus dem Leophex gerade vorgelesen hatte. „Was...?“, wollte sich Leophex dieser Behandlung erwehren. Bestimmt schnitt ihm die Frau, die wohl um die sechzig Sommer gesehen haben musste, das Wort ab. „Wenn der Magister sieht, dass Ihr hier rumschnüffelt, wird er das nicht gnädig aufnehmen.“
„Wenn Ihr mir folgen wollt, dann werde ich Euch durch das Treppenhaus der Dienerschaft tiefer hinabführen, wo kaum noch jemand seinen Fuß hinsetzt. Dort sind nur noch alte Möbelstücke und längst aus der Mode gekommene Kunstwerke zu finden. Vermutlich wird euch dort keiner suchen.“ Die Frau runzelte die Stirn. Ascanio tat es ihr gleich. Das Verhalten und die Selbstsicherheit mochten zu einer Dienerin nicht recht passen – wohl aber die einfache Kleidung. Und irgendwie kam Sie ihm bekannt vor... „Aber Ihr solltet nicht beide verschwinden“, fuhr die Frau fort.
„Das mag alles stimmen, Signora“, erwiderte Leophex an seines Vaters Stelle, der noch immer zu grübeln schien. „Aber warum sollten wir ausgerechnet Euch, einer Fremden, vertrauen?“ „Weil wir gemeinsame Freunde haben.“ Damit griff die Frau unter ihre Schürze und holte eine einzelne, hölzerne Spielfigur hervor. Es war ein Kamel, aus weißer Buche, makellos bis auf eine rusige Stelle am Kopf. Ascanio erkannte sie sofort. Es war ein Teil aus einem edlen Brett Rote und Weiße Kamele, das er vor gut zwei Dekaden in Kuslik erstanden hatte. Er hatte es einst dem Sieger einer Stunden, ja, Tagelangen Partie gegeben, als Zeichen seiner Anerkennung, verbunden mit dem Wunsch, das noch viele weitere Partien folgen mögen. Es war die erste Partie gewesen, die er gegen Tankred Menaris gespielt hatte.
Und da wusste Ascanio, wen er vor sich hatte. „Fiaga Menaris!“ Die Schwägerin Tankreds – und Frau des Patriarchen.

Die Überraschung lähmte Ascanios ohnehin nicht eben ausgeprägte Entschlusskraft. Sein Sohn sah kurz und hastig zwischen den beiden Älteren hin und her. Endlich sagte er:

„Signora, mein Vater scheint euch zu vertrauen. Nehmt ihn mit. Ich werde hier auf … den Magister warten.“ Leophex hatte allerdings keine Ahnung, wer damit gemeint sein sollte. Schließlich waren doch so viele Menaris im Lehrfach tätig, oder etwa nicht?

Sein Vater schien damit nicht einverstanden. Er schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Mit Signore Valeran ist nicht zu spaßen, aber ich kenne ihn seit Jahren. Wenn einer gehen sollte, dann Du, Leophex. Ich kann gute Gründe liefern, hier zu sein.“

Fiaga ließ die Tür nicht aus dem Auge. „Eilt euch! Zu debattieren ist hier nicht am Platze.“
Leophex sah noch einmal zu seinem Vater hinüber, dann nickte er. „Geht voran, Signora.“


wird fortgesetzt in Erste Entdeckungen

Meryama Aurandis, Wanka, Burg Fuldigorsfeste, 4. Peraine 1038 BF

Worin Meryama Aurandis Hinweise auf das Erscheinen oder die Geburt einer mächtigen Präsenz im Peraine 1035 BF in Wanka findet, die im Zusammenhang mit Todesfällen und Träumen im gleichen Zeitraum steht
Ein schwerer, schwarzer Brocken.
Der erste Eindruck, den Meryama Aurandis von dem Sarkophag des Halthera hatte, der in dem immer noch heruntergekommen wirkenden Turm der Fuldigorsfeste errichtet worden war. Sie war auf ihrer Suche nach Horasio Madarin ya Papilio hierhergereist. Sie hatte den Bericht über die Vorkommnisse auf der Burg vor einigen Götterläufen, die ihr ihr Bruder Randulfio gegeben hatte – wie immer schroff, aber damals auch irgendwie beunruhigt – noch gut in Erinnerung. Sie blickte noch einmal auf die gewellten Seiten hinab, die sie dem Bach entrissen hatte. Auf diesen sprach der Resident von Shenilo von der Totenmaske Fyordo Haltheras. Aber er war seit Monaten nicht mehr auf der Fuldigorsfeste gewesen, so hatte ihr der Verwalter, Dozmano Kaltrek, versichert. Trotzdem war sie zunächst nicht wieder zurückgereist. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Sie hatte gehürt, dass die Feuchtwiesen, das seit Dekaden, ja seit Jahrhunderten bestehende Moor zwischen den Ausläufern des Arinkelwaldes, ausgetrocknet war. Nur wenige Monate nach den Vorkommnissen auf der Feste. Und mehrere Leute waren ertrunken, aus ungeklärten Gründen. Aus Shenilo hatte man eigens einen Magister, aus der Familie Menaris, entsandt, aber er hatte offenbar nichts entdecken können.
Sie strich eine der Seiten glatt. Auf ihr berichtete Horasio von Träumen. Träumen vom Ertrinken.
Und nun stand sie vor dem Sarkophag des letzten Haltheras, Boronello. Er war im Peraine vor drei Jahren ebenfalls gestorben. Ertrunken in einem Seitenarm des Arinkel.
Sie blickte sich noch einmal zum Tor nach draußen um, aber die Feste lag nach wie vor in nächtlichem Schlaf. Dann schnippte sie mit den Fingern und fixierte das Schloss der Schatulle, die man auf dem Sarkophag abgestellt hatte. Das Metall färbte sich dunkel und zerbrach an einer Stelle. Eilig öffnete Meryama Schloss und Schatulle. Dann hielt sie inne, trat einen Schritt zurück.
Die Maske Fyordo Haltheras. Der Schlächter von Wanka.
Es war nicht schwer gewesen, herauszufinden, wo man die Maske mittlerweile aufbewahrte. Sie sah ähnlich zerbrochen aus wie das Schloss der Schatulle. Als wäre das Material durch die Last der Jahre brüchig geworden. Aber noch vor einigen Jahren war sie unversehrt gewesen. Meryama konzentrierte sich und strich sich über die Augenlider. Ein schwacher, sehr schwacher Schimmer war ihr Lohn, ein rötlicher Schein, der sich wie Flaum über die Maske zu legen schien. Der Schimmer verblasste aber bereits nach kurzer Zeit. Der Zauber war tot, genauso wie der Träger der Maske.
Was Meryama innehaltenließ war der rötliche Schein, der über dem Sarkophag lag. Ebenfalls schwach, verschwindend, aber merklich. Sie zögerte.
Dann trat sie nach vorne und legte die Stirn flach gegen den kalten Stein. Wenn Fyordo endgültig verschwunden ist, vielleicht spukte sein Nachfahre dann noch irgendwo hier rum? Meryama pfiff durch die Zähne. Sie hätte die Luft anhalten mögen, aber Angst war ihr...unheimlich. Gut, der ist auch tot.
Das Fackellicht, das durch den Deckel des Sarkophags drang, erhellte nur wenig, aber in ihm lag unzweifelhaft ein Leichnam. Sie wollte sich schon wieder abwenden – bevor sie doch noch jemand entdeckte – als sie, einer Eingebung folgend, einen Blick in die Augen des Toten warf. Die Augenhöhlen blickten sie unangenehm leer an...aber doch...
Meryama zog die Stirn vom kalten Stein, taumelte einige Schritte nach hinten und schnappte nun doch nach Luft. Der Druck auf ihrem Brustkorb war gewaltig. Sie zog gierig die muffige Luft der Krypta in ihre Lungen. Bilder, so schnell, dass sie mehr Gefühl, denn Gestalt hätte beschreiben können, waren in ihrem Geist erschienen. Gefühle der Furcht, der Verfolgung, der Wut ... und das Gefühl zu sterben. Zu ertrinken.
Meryamas Atmung wurde flacher, ruhiger. Aber sie wich in Richtung Eingang zurück. Bevor sie die Tür öffnete, blickte sie noch einmal zu dem Sarg zurück. Da war noch etwas gewesen. Das Gefühl, wieder aufzutauchen. Triumph. Das Gefühl, zu leben.
Warum auch immer Boronello Halthera vor drei Jahren gestorben war – gleichzeitig war etwas anderes geboren worden.

Meryama Aurandis, Helas Ruh, 5. Peraine 1038 BF

Worin Meryama Aurandis Zugang zum Zimmer der schlafenden Geronya Madalina Menaris findet, allerdings durch ein Missgeschick ein Feuer legt.
Die Magd verließ die Kammer und rieb sich fröstelnd die Hände. Beim Versuch, die Tür zu öffnen, hielt sie inne. Stirnrunzelnd schloss sie die Tür ein weiteres Mal, diesmal mit Erfolg. Nach einer kurzen Weile ging sie schulterzuckend von dannen und rieb sich wieder die Hände.
Auf der anderen Seite der Tür rieb sich derweil Meryama Aurandis den großen Zeh. Gegen diesen hatte die Magd die Tür gedrückt. Die Haare auf ihren Armen und Beinen ragten steil in die Luft. Nur langsam hob der Zauber, den die Schelmin gewirkt hatte, sich wieder. Rasch eilte Meryama zum Fenster der Kammer hinüber. Eiskristalle waren darauf zu erkennen, obwohl sich der Frühling dem Ende zuneigte. Jedenfalls glaubte sie nun zu wissen, warum das Zimmer nur selten betreten wurde. Umso besser für mich. Sie öffnete das Fenster und holte das kleine Bündel, das sie zuvor hinter einem Busch verborgen hatte, um sich anzukleiden.
Ihr Blick fiel auf den Hügel am Rande des Waldes, der das Kloster Helas Ruh umgab. Zwischen den Bäumen tasteten sich dunkle, fast graue Nebelschwaden hervor. Dennoch konnte sie schwach die Latten einer Holzhütte erkennen, die auf der Anhöhe über dem Kloster stand. Einst für die Jagden der Signori errichtet. Doch nun diente sie einem anderen Zweck. Fast glaubte sie, dass der Nebel in der Tat aus dem Luftschacht der Hütte drang. Immerhin ist der Mann ein Alchemist. Sie hatte erfahren, dass „der Nostrier“, wie Haldoryn Ingvalidion hier allerorten genannt wurde, sein Domizil in der Hütte am Waldesrand aufgeschlagen hatte. Seltsam genug, dass ein Magier des Institutes hier im Osten, beim Kloster der Hesindianer Unterkunft nahm, aber...
Meryama schüttelte den Gedanken ab und wandte sich um. Die kleine Feuerstelle gegenüber des Fensters, die die Magd eben befeuert hatte, konnte den Raum nicht heizen. Ein abgegriffener Wälzer, in dem sicherlich schon lange keiner mehr gelesen hatte, lag auf dem schmalen Beistelltisch vor der Feuerstelle. Daneben stand ein abgewetzter Sessel, der dennoch immer noch bequem wirkte.
Die Frau, wegen der Meryama hier war, war bleich, ein Kissen und braune Strähnen betteten ihren Schädel. Mit dem dunklen Haar und dem weißen Antlitz in die ebenso weiße Decke eingehüllt, sah sie fast wie eine schlafende Holde aus den Märchengeschichten aus. Nur, dachte Meryama, haben die Holden keine blauen Lippen. Was hat der Magus nur mit ihr gemacht?
Meryama war mittlerweile fast sicher, dass der Nostrier seine Hand bei dieser Sache mit im Spiel hatte. Schließlich war er es gewesen, der nicht nur Horasio ya Papilios Brief, sondern auch ihren ersten, eigenen Versuch, zu Geronya Menaris vorgelassen zu werden, unter einem fadenscheinigen Vorwand vereitelt hatte. Doch ein Blick auf den Tisch, der neben dem Bett stand, ließ kein Fläschchen und auch keinen Kräutersack erkennen, der ein Schlafmittel oder dergleichen beinhalten mochte.
Sie rieb sich über die Augenlider und blickte den Raum auf andere Art an. Rasch erkannte sie den rötlichen Schimmer, der vom Haupt der Magierin ausging. Ein genauerer Blick brachte die Erkenntnis, dass nicht der Kopf Geronyas Quelle des roten Scheins war, sondern das Kissen, das jemand darunter gesteckt hatte. Aber auch von dem Fenster ging ein Leuchten aus, das auf einen Zauber hindeutete.
Eine Weile dachte Meryama nach, dann entschied sie sich zu handeln. Wer wusste schon, wie lange sie hier drin noch unbemerkt bleiben würde. Behutsam schlich sie zum Bett der Schlafenden hinüber, hob deren Kopf an und zog das Kissen darunter hervor... Geronya schlug nicht die Augen auf, schrie nicht um Hilfe, als wäre sie aus einem schrecklichen Alptraum erwacht. Nichts dergleichen geschah. Also doch das Fenster?
Sanft setzte Meryama den Kopf der Schlafenden wieder ab und setzte sich in den Sessel, das Kissen in ihrer Hand nachdenklich anblickend. Sollte sie mit der Magierin im Schlepptau einfach versuchen, durch die Gänge zu entkommen. Der Zauber, den sie gewirkt hatte, um hineinzukommen, würde nicht imstande sein, beide Frauen zu verbergen. Sie rieb sich die Finger, die kalt zu werden begannen, und gähnte.
Ein Niesen ließ sie hochschrecken. Ihr eigenes Niesen! Ihre Finger waren steif, das Kissen rutschte daraus mehr hervor, als dass sie es fallen ließ. War der verfluchte Zauber so stark? Wie lange habe ich geschlafen?
Meryama sprang auf. Durch das Fenster hindurch sah sie, dass sich der Nebel zumindest etwas verzogen hatte. Jetzt war der Blick frei auf die Hütte des Nostriers. Die Tür stand offen. „Vermaledeiter Zauber!“ Fluchend trat sie das Kissen in die Feuerstelle. Sofort begannen der alte Stoff – oder die Kräuter darin – Feuer zu fangen. Meryama blickte zum Bett hinüber. Sie fluchte erneut.

wird fortgesetzt in Brand im Kloster