Briefspiel:Im Palazzo Rûndocca

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Beteiligte (irdisch)
Familie Rûndocca.png Rundocca

10. Rahja 1032 BF – Palazzo Rûndocca (vormittags)

Als der Bedienstete die schweren Türflügel öffnete und ihn mit verschlafenem Blick einlud einzutreten, zögerte Santyno einen Augenblick. Sein Blick verharrte an dem glänzend polierten Griff, auf dessen metallene Oberfläche sich die hell leuchtenden Lüster der prächtigen Vorhalle spiegelten. Durch den geöffneten Türspalt drang das strahlende Licht der Kronleuchter und warf inmitten des düsteren Zwielichts der dahinter liegenden Räume ein seltsam anmutendes Schlaglicht. Und unwillkürlich musste er an jene Verse denken, die er auf seiner Reise nach Unterfels gelesen hatte: Der ganze Glanz des Lebens ist ach nur ein Blitz / auf den Donnergrollen und Dunkelheit folgen.

Lange war er fortgewesen, war seinem Lehrmeister durch die großen Städte des Reiches gefolgt und schließlich nach all der Zeit nach Unterfels zurückgekehrt, wo sich in den letzten Jahren so vieles verändert hatte. Nun also sah er den neuen Palazzo seiner Familie von innen. Nun also stand er vor den Amtsräumen seines alten Onkels, den er seit so vielen Götterläufen nicht mehr gesehen hatte. Nur wenige Male hatte ihm sein Oheim geschrieben, doch von seinen Vettern und Basen konnte er vieles von dem Schlechten und dem wenigen Guten erfahren, das sich in den letzten Jahren ereignet hatte.

Alle redeten vom schleichenden Niedergang des einst so stolzen Patriziergeschlechts der Rûndocca, das vom stetig fallenden Stern derer von Berîsac unweigerlich mit in die Tiefe gerissen zu werden drohte, waren doch die Schicksale beider Häuser seit ehedem auf’s Engste miteinander verbunden. Die Verheerungen im Yaquirbruch, der Abfall der Signorie Mantrash und seiner Bodenschätze an die Söldnerbanden des Kullbachers und nicht zuletzt der Zusammenbruch der Bankgeschäfte hatten den Rûndocca allesamt schwer zugesetzt. Doch es war schließlich Madadans jüngste Tochter, die Schwanengleiche, ganzer Stolz und funkelndes Juwel des Patriarchen, deren Leichtsinn alle Hoffnungen auf eine verheißungsvolle Zukunft zunichte machen sollte. Ließ sie sich doch in jenen Tagen, als Coriolennes Dächer brannten, von einem dahergelaufenen almadanischen Hauptmann entführen, der sie als Braut und Beute in die Fremde schleppte und schließlich nur unter Zwang und gegen bare Münze in eine Vermählung einwilligte. Die Schande war groß, doch niemanden hatte sie so sehr getroffen wie den alten Patriarchen.

Santynos Verwandte hatten dem Gelehrten in rührenden Briefen beschrieben, wie sich Madadan immer mehr zurückzog, ja dass nun ganze Wochen vergingen, in denen er sich weder seiner Familie, noch seinen Bediensteten zeigen wollte. Wochen, in denen er ganz allein in seinem dunklen Amtsstube vor sich hinbrütete, sein einst so fröhlicher Alltag aufgezehrt von Einsamkeit, nicht enden wollenden Andachten vor den Werken seiner eifrig behüteten Gemäldesammlung, von gar lebensfeindlichen Exerzitien, die ihn alles um ihn herum vergessen ließen. Mit dem Namen ‚Ufficio aureo’ habe sein Onkel die Arbeitsräume getauft, doch ‚Ufficio der ewigen Nacht’ nannten es hinter vorgehaltener Hand die flüsternden Bediensteten, die sich unheimliche Geschichten zu erzählen wussten über ihren Herren, der in schlaflosen Nächten wie ein Spukgespenst durch die verlassenen Flure seiner Gemächer schlurfte.

„Onkel!“ rief er in die Tiefe des Raumes hinein.

„Mein lieber Neffe! Komm näher und lass dich ansehen!“ Im nervös flackernden Lichte einer einzelnen, nur noch schwach glimmenden Kerze enthüllte sich dem Gelehrten das altersschwache Antlitz seines Onkels, der sich mit sichtlicher Mühe von seinem Lehnsessel emporreckte.

„Lange ist es her“, sprach Santyno. Und während er sich mit schnellen Schritten seinem Onkel näherte, wurden ihm die unzähligen Gemälde gewahr, mit denen die Wände des Ufficios bis zur Decke hin bedeckt waren. Schwer und dunkel war ihre Farbgebung, streng das Disegno, und selbst das dick aufgetragene Blattgold, das den Hintergrund der meisten Bilder zierte, besaß einen seltsam matten, fast verbrauchten Glanz. Wie finstere, hoch an die Wände geworfene, ja lauernde Schatten, umgaben sie den alten Mann, dessen Hand Santyno mit ehrerbietender Geste küsste. Als der Gelehrte aufsah, stellte er mit Wohlwollen fest, dass sein Onkel noch immer die schwere Amtskette des Camerlengo zu Mantrash trug, allen Widrigkeiten zum Trotz – oder in trauervollem Gedenken einst glanzvoller Zeiten.

Ein mildes Lächeln huschte über Madadans Gesicht. „Die Gelehrtenrobe steht dir gut, lieber Santyno, und wie ich höre, hast du dich glänzend entwickelt.“

„Ich tue mein bestes, damit ich meiner Familie keine Schande bereite. Konntet Ihr die Sonette lesen, die ich Euch zustellen ließ?“

„Ich habe sie gelesen, und der brave Thiodan trug mir ebenfalls deine Madrigale vor. Ich muss sagen, du zeigst Talent, die Leichtigkeit und Unbeschwertheit des Altertums zu besingen. Gar ein wenig zu leicht und zu unbeschwert scheinen sie mir einstweilen, ich möchte sagen, ich wünschte mir ein wenig mehr Ernst und Tugend in deinen Werken.“

„Fast fürchtete ich, sie würden Euren Geschmack nicht treffen. Und blicke ich auf Eure Sammlung, so fühle ich mich bestätigt, denn dunkel und tief und schwer erscheinen mir die Werke, mit denen Ihr Euch umgebt“, entgegnete Santyno und deutete wahllos auf ein Gemälde, dass vor einer aufgewühlten Gewitterwolke und zwischen wehklagendem Volk einen enthaupteten Heiligen in einer Lache roten Blutes zeigte.

Ein trauriges Lächeln huschte über Madadans Gesicht, als sich der Patriarch räusperte und sagte: „Ich weiß, diese Leichtfüßigkeit alla Aureliana, die so viele junge Menschen in diesen Zeiten verehren und feiern, mag wie ein sanfter Balsam für geschundene Seelen sein. Schäfer, die im Grase sitzen und in der Milde des Mittags dem Wein und dem Harfenspiele frönen, im Hintergrund still schweigende Ruinen aus alter Zeit. Der göttliche Horas zu Pferde, begleitet von den Chören der Alveraniare, die ihn auf lichten Höhen preisen. Allegorien von Unschuld, Schönheit und Sanftmut, die im Grazientanz ihre tugendhaften Leiber darbieten. Dies alles überlasse ich gerne den jungen Herzen, den ungestümen und hoffnungsvollen. Doch es ist nichts für einen verbitterten, alten Mann wie mich.“

„Aber Onkel!“ rief Santyno mit mahnender Stimme. „Wir müssen den Tag ergreifen und bis zum letzten Tropfen kosten wie eine rote Rebe, denn wir kennen die Finsternisse nicht, die noch kommen mögen. Ich beschwöre Euch. Auch Ihr habt allen Grund, Euch an der Tugend und Schönheit dieses Lebens zu erfreuen.“

„Doch mögen sie mein Herz nicht mehr erreichen, meine Seele nicht mehr packen. Sieh’ mich an. Wie wir alle bin ich ein Gefäß mit vielen Löchern, aus denen unaufhaltsam der Saft des prallen Lebens rinnt.“ Madadan deutete auf ein Gemälde eines Gratenfelser Meisters, das in altmodischer Manier einen Kirchenvater zeigte, der vor einem dunklen Hintergrund stumme Zwiesprache mit dem Schädel eines Heiligen führte. „Der Tod hält uns alle fest umklammert, nur spüren wir nicht seinen Griff. Die Pracht des Lebens, die du besingst, ist sein vorzüglichster Unterschlupf, sein bestes Versteck. Denn wo das Leben nur Glanz und Herrlichkeit ist, da ist der Mensch geblendet und unwissend über das, was jenseits dessen lauert, das er zu sehen glaubt. Sieh nun hier!“ sagte er und deutete auf ein weiteres Gemälde, das in einer dunklen Ecke hing.

Mit langsamen Schritten ging Santyno auf das Bild zu und nahm zunächst seinen prunkvollen, aufwendig gefertigten Rahmen war, in dessen mit Blattgold verzierten Holz greifenköpfige Alveraniare aus Praios’ lichten Hallen geschnitzt waren. In der Mitte des Bildes ein grelles Feuer. Ein betender Mönch stand davor, in sich gekehrt, die Augen geschlossen, die Hände gefaltet. Frommes Volk um ihn herum. Manche gafften, manche beteten und andere warfen goldenen Tand, Bücher, ja ganze Bilder in die Flammen. Diese zischten hell und rot inmitten einer finsteren Piazza. Und umso höher die Lüfte wurden, nach denen sie griffen, umso seltsamer streckten und verformten sich die Flammen zu Gliedern, Körpern, Fratzen und Mäulern, die an grässlichste Daimonen gemahnten, ganz so, als seien sie den gewagtesten Tagträumen eines Fran-Horas entstiegen. Und streng waren die Blicke der alveranischen Heerscharen, die mit manieriert gestreckten Hälsen von den himmlischen Gestaden auf die vom Feuerschein in blutrote Glut getauchte Welt hinabschaute. Heilige in weißen, mit Brokat durchwirkten und zum Teil blutbefleckten, von den Leiden ihrer Martyrien zeugenden Gewändern standen da und umringten den Höchsten unter ihnen, den lorbeerbekränzten Horas; der war in goldener Brünnen angetan und hatte mannsgroße Greifen an seiner Seite, die ihrerseits in silbern glänzende Plattenpanzer gewandet waren und mit lodernden Blicken flatternde Banner in die Höhe hielten.

„Das Fegefeuer der Eitelkeiten“, hörte Santyno seinen Onkel sagen, während er noch immer mit staunendem Blicke und zum Bild hinüberbeugt dastand und versuchte, die inneren, geheimnisvollen Bewegungen nachzuvollziehen, die das Gemälde von Innen heraus erschütterten und es zugleich so erschütternd machten.

Madadan, der sich aus seinem Lehnstuhl erhoben hatte, trat nun hinter seinen Neffen und blickte über dessen Schulter hinüber zu dem Bild. „Fra Praionors Zorn muss tief und innig gewesen sein in jener Nacht. Denn es war ein heiliger Zorn, der das Herz des Mönches erfüllt hatte. Zorn auf den Tand, die Lustbarkeiten, die Vergänglichkeiten. Zorn auf das Sichtbare, das dem Menschen den Blick auf das Unsichtbare verwehrt. Und wie strahlende und quälende Visionen zugleich sich seines Geistes bemächtigten, so fühlt sich auch mein Herz beherrscht von Hunger nach Reinheit und Durst nach Vergebung. Oft rücke ich meinen Sessel hier her und blicke auf das Werk, das mich tagtäglich beschäftigt – das mich nicht in Ruhe lassen will, nicht einmal, wenn der Schlaf mich zu sich ruft. Manchmal beschleicht mich ein Gefühl, dem Gemälde ausgeliefert zu sein, ganz als hätte es eine seltsame Macht über meine Seele; dann wiederum denke ich, dass ich noch nie einem Werk gegenübergetreten bin, das so tief und so wahr ist, wie dieses hier.“

„Es ist wahrlich ein vorzügliches, ein kostbares Meisterwerk“, brachte schließlich Santyno hervor. „Wer hat es geschaffen? Ich habe so etwas noch nie gesehen.“

Gerade wollte Madadan antworten, da wurde die Tür aufgestoßen und ein Mann stürzte herein. „Vater!“ rief dieser mit bebendem Atem. Und Santyno, dessen Augen sich mittlerweile an das Zwielicht gewöhnt hatten, erkannte sogleich seinen Vetter Thiodan. „Es wurde gemordet! Ein Leichnam baumelt am Turm des Pallazo della Signoria. Manche sagen, Vascal ya Berîsac habe seinen verräterischen Cancellario Cindran Berîsac nach Jahren aufgespürt und ihn aus Rache töten lassen. Andere meinen, es sei der Kullbacher gewesen. Lüge und Verdacht gehen von Mund zu Mund. Wir müssen etwas unternehmen!“

„Du magst Recht haben, Ya Berîsac hat gestern in der Signoria einen Angriff gegen della Pena geführt. Doch gemach, mein Sohn. Die Klugheit gebietet uns, umsichtig zu handeln. Wie du siehst, ist dein Vetter heute eingetroffen. Unser Freund, seine Wohlgeboren Vascal ya Berîsac wird sich freuen, ihn wiederzusehen. Geht also nun gemeinsam zu Dom Vascal, sprecht mit ihm und sagt ihm, dass er in unserer Familie einen verlässlichen Freund besitzt, der an seiner Seite steht und zu ihm hält, komme was wolle.“

Thiodan nickte und begrüßte seinen Vetter Santyno. Eilig verließen sie bald die Arbeitsräume des alten Patriarchen. Als sich die Tür hinter ihnen schloß, rückte Madadan seinen Lehnsessel hinüber zu dem Gemälde, welches das Fegefeuer der Eitelkeiten zu Methumis zeigte, und starrte es lange Zeit an. Sein Blick blieb schließlich an der Signatur der Künstlerin hängen, die in knappen Strichen, in einer seltsamen Mischung aus purpurner und schwarzer Farbe ihre Initialen in die rechte untere Ecke gesetzt hatte: DV.