Briefspiel:Hoher Besuch/Theater

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Beteiligte (irdisch)
Familie Menaris klein.png Athanasius
Familie ya Malachis.png Cassian
Haus ya Papilio.png Gishtan re Kust


Shenilo, Theater Zur Maske, Abend des 17. Boron 1037 BF

Ah! Das Theater. Die Bretter, die die Welt bedeuten. Horasio ya Papilio schwelgte in Vorfreude auf die anstehende Aufführung. Er kannte so manches Theaterstück aus seiner Studienzeit in Methumis, doch in Shenilo war die Aufführung des "Kaufmanns" eine in Premiere.
Doch seine Aufmerksamkeit lag nicht allein beim Abgeben seines Straßenmantels, beim Holen der reservierten Eintrittskarte. Als Resident seiner Familie musste er auch Kontakte zu anderen Gästen pflegen, höfliche und vergnügte Worte mit Einheimischen und Auswärtigen wechseln. Dass an diesem ereignisreichen Tag mancher Anwesende angespannter Stimmung war, entging Horasio nicht.

Navina trifft ein

Navina ya Malachis wenige Jahre nach ihrem letzten Theaterbesuch

Wann war ich das letzte Mal an solch einem Ort?, fragte sich Navina in Gedanken als sie die ehrwürdige, alte Fassade des sheniloer Theaters musterte. Es war im Sommer 1026 BF kurz bevor der Abtprimas verschwand. Madalon, Vater und ich waren zu den Festspielen in Arivor, erinnerte sie sich weiter. Oh, lang vergangene unbeschwerte Tage…, leise seufzend ließ Navina den Gedanken unvollendet. Sie war hierher gekommen, um Zerstreuung zu finden, nicht um zu grübeln.
So straffte sie die Schultern, hob das Kinn und durchschritt das Portal. Suchend schweifte ihr Blick über die Menschen im Foyer unter all den Unbekannten nach dem einem Gesicht Ausschau haltend, das sie zu sehen wünschte.
Hier und da blieb ihr Auge aber dennoch an der ein oder anderen besonders auffälligen Gestallt hängen. Sie konnte auch nicht umhin zu bemerken, dass sie mit ihrem Kleid aus dunkelgrünem Brokat, wie es vor zehn Jahren getragen worden war, antiquiert wirkte. Die Mode war nicht stehen geblieben. Auch die Steckfrisur, die sie als junge Frau gerne getragen hatte und zu der sie sich heute hatte aufraffen können, schien einem alten Gemälde zu entstammen. Navina sah wie diverse junge Damen die Köpfe zusammensteckten und tuschelten.
Gratulation Navina, du hast es geschafft, du bist nun offizell eine alte, wunderliche Matrone, schoss es ihr durch den Kopf. Und wenn schon! Dafür hast du im Vergleich zu diesen Modepüppchen einen Verstand unter der Frisur! Noch einmal korrigierte sie ihre Haltung und nun, wirklich kerzengerade im Kreuz und mit hoch erhobener Nase, schritt sie durch die Menge.

Thersions Theater

Thersion nestelte an dem roten Hemdkragen herum und schob ihn gleichmäßig neben den Lederkragen seiner Weste. Er nickte dem ein oder anderen bekannten Gesicht zu, ohne sich allerdings auf ein Gespräch einzulassen. Endlich fand er das Antlitz, auf das er gewartet hatte und atmete aus. Die Aufführung war außerordentlich gut besucht, das war schon jetzt deutlich. Gewöhnlich kamen die Theatergäste vorwiegend aus Studiora oder dem Patriziat, und auch jetzt hatte er den Druckermeister Fardenin und seinen Bruder Valsinian und auch den Zunftmeister Alvin Eselborn sowie den Patrizier Horasio ya Papilio erblickt, aber er erkannte auch einige Gesellen der Rebleute, der Knochenhauer, den Devotionalienhändler Remal Andorma und die Herbergsmutter Jamene Zardan.
Mit einem Lächeln begrüßte er Navina ya Malachis, die er nun durch eine Menschentraube erspähte. Er winkte sie zu sich und eilte auf die beiden Sitze auf einer der oberen Reihen des Theaters zu. Als sich Navina genähert hatte warf er ihr einen entschuldigenden Blick zu. "Seid herzlich gegrüßt, meine Liebe. Offenbar will heute die halbe Ponterra Zarastro sehen. Nicht ohne Grund, wie mir Freunde sagen, die das Stück bereits gesehen haben. Aber es ist unter all den Begeisterten schwierig, einen guten Platz zu erhalten - und zu verteidigen!"
Mit einer Handbewegung lud er die Gelehrte ein, Platz zu nehmen.

Erster Akt

Applaus brandete auf, als der Vorhang den Blick auf die Bühne preisgab. In deren Mitte war eine einzelne Holzfassade aufgebaut, die einen steinernen Brunnen darstellten sollte.

Auf die Bühne traten nun zwei Männer. Der linke Mann, der etwas gebeugt ging, trug Kurzmantel, Wams Kniebundhose und Strümpfe, einen schwarzen Hut mit Feder und seine Maske trug einen schwarzen Kinn- und Schnurrbart. Der andere trug einen speckigen Brustpanzer und ein Schwert an der Hüfte, seine Maske trug eine aufgezeichnete Narbe.

Der Spitzbart: „Dreitausend Dukaten – gut.“

Der Kriegsmann: „Ja, Signore, auf drei Monde.“

Spitzbart: „Auf drei Monde – gut.“

Kriegsmann: „Wofür, wie ich Euch sagte, Benedict Bürge sein soll.

Spitzbart: „Benedict Bürge sein soll – gut.“

Kriegsmann: „Könnt Ihr mir helfen? Wollt Ihr mir gefällig sein? Soll ich Eure Antwort wissen?“

Spitzbart: „Dreitausend Dukaten, auf drei Monate, und Benedict Bürge.“

Kriegsmann: „Eure Antwort darauf?“

Spitzbart: „Benedict ist ein guter Mann.“

Kriegsmann: „Habt Ihr irgendeine Beschuldigung des Gegenteils wider ihn gehört?“

Spitzbart: „Ei nein, nein, nein! – Wenn ich sage, er ist ein guter Mann, so meine ich damit, versteht mich, dass er vermögend ist. Aber seine Mittel stehen auf Hoffnung; er hat eine Kriegerin, die Königin sein will, während die Königin, keine Kriegerin sein will. Ich höre ferner, dass sein Freund, der Krähende Signor, in seiner eigenen Heimat verhasst ist. Sicher, er mag manchen Mann unter Waffen haben. Aber Schwerter sind nur Eisen und Krieger sind nur Menschen. Es gibt Rost und Blut, Eisendiebe und Lebensdiebe – ich will sagen, Bogenschützen, Lanzenreiter, Geschützmeister, und dann haben wir die Gefahr von Wetter, Krankheit, Feldschern und Badern.

Der Mann ist bei alledem vermögend – dreitausend Dukaten – ich denke, ich kann seine Bürgschaft annehmen.“

Kriegsmann (sich aufplusternd): „Seid versichert, Ihr könnt es. Oder ich will nicht Orsino heißen!“

Ein Tuscheln war die erste Reaktion der Zuschauer, die nun zu erkennen begannen, welche Variante des Kaufmanns heute hier geboten werden sollte.

Spitzbart: „Ich, Zarastro, will versichert sein, daß ich es kann; und damit ich versichert sein kann, will ich mich bedenken. Kann ich Benedict sprechen?“

Auf die Bühne sprang nun ein dritter Mann, der eine blonde Perücke über seiner Maske trug. Erst auf den zweiten Blick erkannte Thersion, dass der Mann in einem großen, hölzernen Gestänge steckte, das offenbar einem Streitwagen nachempfunden war. Der Kopf des hölzernen Pferdes war wiehernd in die Luft gereckt.

Orsino: „Das ist Signor Benedict.“

Eine Frau in der vorderen Reihe lachte unterdrückt auf.

Zarastro kam nun einige Schritte nach vorne, spähte zu dem sich Nähernden verstohlen hinüber und wandte sich dann an die Zuschauer.

Wie sieht er einem falschen Helden gleich! Ich hass' ihn, weil er ein Rondrenbuhle ist, doch mehr noch, weil er aus gemeiner Einfalt umsonst Männer aufbringt und hier in Pertakis den Preis von Bett, Speis und Trank in die Höhe treibt.

Wenn ich ihm mal die Hüfte rühren kann, so tu ich meinem alten Grolle gütlich. Er hasst meinen Stand und schilt selbst da, wo alle Kaufmannschaft zusammenkommt, mein Geschäft, rechtlichen Gewinn und mich den er nur Pfeffersack nennt.

Verflucht mein Haus, Wenn ich ihm je vergebe!

Erste Reaktionen

Erste wütende Ausrufe aus den hinteren Reihen waren zu vernehmen. Thersion schmunzelte. Der Mime machte seine Sache sehr gut, fast fühlte er selbst das Kribbeln, das er verspürt hatte, als seine Feder einst wider die Ilsandro geschrieben hatte. Thersion warf seiner Begleitung ein kurzes Lächeln zu und wandte sich dann wieder dem Schauspiel zu.

Horasio ya Papilio schaute gelegentlich nach hinten, um die Zwischenrufer zu erkennen. Ein provokanter Text, ja, und eine gewissen Anteilnahme sprach für jedes Stück. Aber etwas dezenter könnten die Zwischenrufe doch ausfallen. Man verstand ja gelegentlich das von der Bühne Deklamierte nicht mehr. Ärgerlich bei einer rein gesprochenen Aufführung.

Die Eremitin in der Menge

Aufmerksam verfolgte Navina das Geschehen auf der Bühne. Es entging ihr nicht, dass im Text etliche Spitzen versteckt waren, nur konnte sie sie nicht recht zuordnen. Das Dasein als Einsiedlerin hatte auch so seine Nachteile: Von der momentanen Tagespolitik hatte sie keinen blassen Schimmer. Nun gut, sie würde später Thersion fragen. Zunächst aber wollte sie die Aufführung genießen und diese nicht durch Fragen nach den Hintergründen zerstören. Momentan genügte es ihr vollauf, die Reaktionen des restlichen Publikums zu sehen.

Ende des ersten Aktes

Das Stück war etwas fortgeschritten und näherte sich nun dem Ende des Ersten Aufzuges, wie Thersion erkannte.

Zarastro: „Geht mit mir zum Notarius, da zeichnet mir Eure Schuldverschreibung; und zum Spaß, wenn Ihr mir nicht auf den bestimmten Tag an dem bestimmten Ort die und die Summe, wie der Vertrag nun lautet, wiederzahlt: lasst uns einen halben Stein von Eurem Fleisch zur Buße setzen, das ich schneiden dürfe aus welchem Teil von Eurem Leib ich will.“
„Verfluchter Ilsandro!, ein Raunen ging durch die Reihe hinter dem Schreiber des Hesindeblattes, als diese Worte von unbekannter Stimme vernommen ward.
Benedict: „Es sei, aufs Wort! Ich will den Schein so zeichnen und sagen, dass ein Pertaker liebreich ist.“

Orsino: „Ihr sollt für mich dergleichen Schein nicht zeichnen: Ich bleibe dafür lieber in der Not.“

Benedict: „Ei, fürchte nichts! Ich werde nicht verfallen; schon in zwei Monden, einen früher als die Verschreibung fällig, kommt gewiss zehnfältig der Betrag davon mir aus den Kassen der Königin ein.“

Zarastro: „O Herre Phex! Über diese Rittersleute, die eigne Härte anderer Gedanken argwöhnen lehrt! Ich bitt Euch, sagt mir doch versäumt er seinen Tag, was hätt ich dran, die mir verfallne Buße einzutreiben? Ein Pfund von Heldenfleisch genommen, ist so schätzbar, auch so nutzbar nicht als Fleisch von Pferden, Ochsen, Ziegen. Seht, ihm zu gefallen biet ich diesen Dienst: Wenn er ihn annimmt, gut; wo nicht, lebt wohl! Und, bitt Euch, kränkt mich nicht für meine Liebe.“

Benedict: „Ja, Zarastro, ich will diesen Schein dir zeichnen.“

Zarastro: „So trefft mich gleich im Hause des Notars, gebt zu dem lustgen Schein ihm Anweisung; Ich gehe, die Dukaten einzusacken und will im Augenblicke bei Euch sein.“

Benedict: „So eil dich, wackrer Zarastro.“ Nun verließ Zarastro – begleitet von einigen Schmährufen – die Bühne.

Benedict: „Der Kauf- wird noch ein Ehrenmann; er wendet sich zur Güte.“

Orsino: „Ich mag nicht Freundlichkeit bei tückischem Gemüte.“

Benedict: „Kommt nur! Hiebei kann kein Bedenken sein, längst vor der Zeit sind meine Reiter herein.“

Damit verließen beide Schauspieler die Bühne und unter beginnendem Getuschel und Gerede der Zuschauer wurde der Vorhang zugezogen.
„...der Mann hat recht, Orgunde! Siehst du denn nicht, dass es im Krieg der Drachen genau so war?“ Thersion wandte sich nur halb im Profil um, den Redner, einen teiggesichtigen Mann mit schwitzender Oberlippe auszumachen, der seiner großäugigen, jüngeren Frau den ersten Aufzug zu erklären suchte. „Gransignore Benedict wollte die Brücke gen Süden überqueren und sich der Heldenkönigin Salkya anschließen – aber dieser...dieser Zarastro Ilsandro“, er kicherte, „hat ihm die Tore Pertakis‘ verschlossen. Wahrscheinlich wollte er sogar die 3000 Dukaten an Brückenzoll, so wie er jetzt die Pilger auspresst!“
Thersion wandte sich von diesem Gespräch ab und seiner Begleitung zu. „Ich hoffe, das Stück gefällt Euch bis hierhin, meine Liebe? Ich muss gestehen, es ist mehr versteckte Lokalpolitik enthalten, als mancher erwarten durfte!“ Er griff neben sich auf einen leer werdenden Sitz, wo eine neuste Ausgabe der Regionalgazette zurückgelassen worden war. „Aber seht, was das Hesindeblatt geschrieben hat – neben dem Besuch des Signore Ilsandro wäre es beinahe untergegangen. Vielleicht interessiert euch das ja?“
„Ich muss mich einstweilen entschuldigen, ich will uns eine Erfrischung besorgen!“

Lektüre

Die gelehrte Dame in Gedanken noch ganz bei der Handlung des Stückes, nahm das Hesindeblatt mit einem dankenden Nicken entgegen. Erst als ihr Begleiter bereits zwischen den Sitzreihen verschwunden war, fiel ihr ein zu fragen: „Welchen Artikel meint ihr?“ Aber natürlich erhielt sie von der leeren Luft keine Antwort und nur einige irritierte Blicke von anderen Zuschauern, die wie sie auf ihrem Platz verblieben waren. Also machte sich Navina daran das gesamte Hesindeblatt zu überfliegen und blieb schließlich von selbst bei einer Meldung das Draconiterinstitut und ihre Verwandtschaft betreffend hängen. `Sieh mal einer an.` schmunzelte sie in Gedanken. `Ein altes Spiel, wiedergefunden, um ein neues Spiel damit zu beginnen.`
Ein Schatten fiel auf sie und Navina bemerkte, dass Thersion zurückgekehrt war. „Wahrhaft, ein interessanter Artikel.“ Sie lächelte zu ihm auf. „Aber nun, bevor das Stück seine Fortsetzung findet, seid so gut und gebt mir eine schnelle Lektion in der momentanen sheniler Tagespolitik. Wohl ist mir der Kaufmann von Methumis bekannt, und ich kann die abweichenden Textstellen verifizieren, nur entgeht mir das Innuendo dahinter.“

Erläuterungen

Die Wahrheit hinter Zarastros Maske?

Thersion reichte einen kleinen Pokal mit Wein an Navina weiter und setzte sich dann neben sie. "Ich habe mir erlaubt eine kleine Erfrischung zu erstehen." Er bedeutete ihr schmunzelnd, einen Schluck zu nehmen. Er wies auf die Bühne, wo sich gerade erste Anzeichen eines baldigen Hebens des Vorhangs zeigten.
"Ich kann verstehen, dass das alles verwirrend für Euch sein muss. Die Anspielungen sind nicht immer so leicht zu entschlüsseln wie das eigentümliche Holzpferd Benedicts, das an die Streitwagenvorliebe unseres einstigen Stadtoberhauptes erinnert. Die Handelnden sind Anspielungen an Adlige der Ponterra, zum einen Benedict di Matienna, der erste Gransignore von Shenilo, zum anderen den jetzigen Amtsträger, Orsino Carson, der im Thronfolgekrieg ein Bündnispartner Benedicts auf der Seite der unglückseligen Salkya Firdayon war. Beide wollten ihre Truppen damals gen Süden senden, um Salkya zu unterstützen, aber in Pertakis verhinderte dies Stadtherr Alessandro ya Ilsandro, der die Brücke über den Yaquir sperren ließ.“
„Die Anspielung liegt vor allem darin, dass Zarastro neben Raffgier vor allem von Rachsucht angetrieben ist. Vieles von dem, was Pertakis seit dem Thronfolgekrieg gegen Shenilo unternommen hat, gemahnt an Vergeltung für die Eroberung Pertakis‘ durch Benedict und die anschließende Arretierung des Stadtherrn Alessandro unter der Statthalterschaft von Orsino Carson.“
„Wenn ihr Alessandro einmal gesehen hättet, Navina, hättet Ihr auch erkennen können, dass Zarastros Maske und seine Kleidung an den Stadtherren von Pertakis gemahnen. Früher hingen auch einige Gemälde in Magistratspalast und Dorén-Halle, bevor wir uns von den Kaufherren Pertakis‘ losgesagt haben, deshalb erkennt mancher Sheniler die wahre Gestalt hinter dem Geldverleiher Zarastro! Und nun, da Alessandro und Orsino sich just heute im Magistratspalast treffen, nun, da denkt eben mancher an diese Zeit zurück und fragt sich, was der Ilsandro in seiner Rachsucht und Raffgier dieses Mal ausgeheckt haben mag."

„Ah. Das erklärt natürlich die Reaktionen des Publikums.“ Die Gelehrte schmunzelte. „Sobald man sich von einem Stück persönlich betroffen fühlt folgt man der Handlung mit einer völlig anderen Intensität. Nun, die Allusionen sind gut gewählt und schlüssig. Außerdem, gebe ich zu, bin ich nun durchaus neugierig geworden die betroffenen Personen in natura in Augenschein zu nehmen, wo dieser Ilsandro schon einmal in Shenilo weilt.“

"Ah, der oberste Schreiber des Hesindeblatts", lenkte in Horasio Thersions Aufmerksamkeit auf sich.
"Stellvertretender Schriftleiter", korrigierte der Ältere den jungen Papilio, so gewohnheitsmäßig wie nachsichtig.
"Ja, richtig, diese Titulatur...", ging Horasio flugs über den Einwand hinweg. "Ihr werdet morgen ja einiges zu schreiben haben, Meister Gedra." Horasio stand nun in der Sitzreihe Thersions und Navinas. Er hatte ein Tonbecherchen voll Würzweins in der Hand, mit dem er gerade so eifrig gestikulierte, dass es nicht überschwappte.
"In der Tat. Der Subtext der Inszenierung ist nicht sorgfältig verborgen und entgeht vielen nicht. Wobei man die Stoßrichtung so oder so interpretieren könnte", antwortete Thersion. "Aber wo ist unsere Höflichkeit?", gab er dem Adeligen einen verbalen Klapps: "Dies ist die gelehrte Signora Navina ya Malachis, jenes der Bevollmächtigte oder "Resident" des Hauses ya Papilio zu Shenilo, Horasio", stellte er seine beiden Gesprächspartner einander vor.
Navina lächelte dem Adligen zurückhaltend, aber durchaus freundlich zu. Gleichzeitig erhob sie sich von ihrem Platz um ihrerseits den Herren zu begrüßen. Allerdings kam sie nicht weiter als „Hesinde zum Gruße, werter…“

Aufruhr

In diesem Augenblick wurde ihre Unterhaltung - wie man anderes Pausengespräch im Theatersaal - durch wütendes Rufen unterbrochen: "Halt, bleib stehen, Bursche!" "Ich weiß es doch nicht!" Ein Schwall von Menschen ergoss sich aus einer schmalen Tür neben der Bühne, vorweg ein Kulissenschieber, hinterher eine Schar aufgebrachter, überwiegend jüngerer Sheniloer Einwohner. Thersion kannte die meisten von ihnen.

Allerhand Gesichtslarven

Der Bühnenhelfer eilte, um seinen Verfolgern zu entkommen, wobei er mehrfach beteuerte, nichts zu wissen. Es schien, als ob die Gruppe, die hinter ihm her war, über den bisherigen Verlauf des Stücks erbost sei - und unbedingt vom erstbesten Theaterbediensteten erfahren wollte, wer die teils deutlichen Textänderungen vorgenommen habe. Thersion drehte sich ein Stück vom jungen ya Papilio weg und verbarg dadurch ein zufriedenes Lächeln, das bald darauf jedoch erstarb, als ein Druckerzeugnis an seinem Gesicht vorbeiflog.

"Du deckst den Schmierfink doch!", keifte Jamene Zardan und warf ein Programmheft hinter dem Burschen her, das sie vom Platz eines betuchteren Zuschauers gegriffen hatte. Das Druckerzeugnis klatschte gegen dessen Rücken. Der Kulissenschieber erschrak und hechtete über eine Sitzreihe, um zu entkommen - und rannte die von dieser Entwicklung völlig überraschte Navina um.
„Er wird doch nicht..?“ schoss es Navina durch den Kopf, als sie die Reaktion ihres Vertrauten sah, kam aber in ihrem Gedankengang nicht weiter, denn ein heftiger Stoß brachte sie völlig aus dem Gleichgewicht. Sie ruderte haltsuchend mit den Armen und schlug dabei dem ebenfalls perplexen Horasio den Würzweinbecher aus der Hand, so dass sich die dunkelrote Flüssigkeit in einem feinen Sprühregen über sie beide verteilte. Glücklicherweise verspürte die fallende Dame im nächsten Moment einen lenkenden Arm um ihre Taille, der sie davor bewahrte, zwischen den Sitzreihen auf dem Boden aufzuschlagen und sie stattdessen sicher auf dem Schoß des geistesgegenwärtigen Helfers Thersion landen ließ.
Verdattert stellte Navina fest, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten und sie konnte Gedras Schmunzeln mehr erahnen, denn sehen, als er feststellte: „Aufgefangen! Beruhigt euch meine Dame, ich habe euch.“ „Seid bedankt!“ war Navinas leicht atemlose Antwort und verlegen suchte sich zunächst in ihrem Gewande nach einem Tüchlein, um sich das Gesicht von den weinroten Spritzern zu reinigen, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen um sich herum lenken konnte.
Durch die Kollision war die Flucht des armen Bühnenarbeiters dermaßen gebremst worden, dass ihn seine Verfolger erreichten und die ungestüme Prospektwerferin ihn am Ärmel seiner Joppe ergriff: „Hiergeblieben! Jetzt wirst du mir antworten oder…“ Sie beendete den Satz nicht, hob allerdings drohend die geballte Linke über den Kopf.

„Haltet ein!“, forderte Horasio, der den Rücken gerade hielt und die Brust herausrückte, um seine gesamte Körpergröße und -fülle zur Geltung zu bringen. „Was erbost Euch so?! Ihr seid doch aus der Stadt, und das Stück richtet sich nicht gegen Shenilo?“
„Tut es nicht?“, fragte Burian, ein dürrer, junger Patrizier mit zerzaustem Bart, der sich dem Bühnenhelfer von der anderen Seite in den Weg gestellt hatte.
„Nein“, bestätigte Thersion, der sich ob des mangelnden Textverständnisses der Krawallschwestern und -brüder innerlich mit der Hand gegen die Stirne schlug. „Es ist üblich, dass Inszenierungen den Inhalt eines Stücks teilweise auf den Aufführungsort anpassen, das ja. Aber im konkreten Fall sind die eingewobenen Anspielungen doch eher Persiflagen, die sich...“ Der SHB-Berichterstatter hielt inne, ehe er zuviel sagen konnte.
Glücklicherweise ergänzte Horasio, so dass die kurze Pause niemandem auffiel: „...nicht gegen Shenilo, sondern vornehmlich gegen Zarastro richten. Besser: den, welchen Rolle und Maske persiflieren. Ihr versteht?“ Die teils vom Branntwein stumpfen Augen der aufgebrachten Schar sagten überwiegend „nein“, die zögerlich nickenden Köpfe aber „ja“. Resident Papilio schob sich zwischen Jamene und den Kulissenarbeiter. „Also gegen den Pertaker, der gerade im Magistratspalast zu Gast ist. Ihr versteht?“ Mehr ehrliches Verstehen zeigte sich und ließ sich hören. „Gut“, sagte Horasio, und schob den Bedrohten an Burian vorbei in Richtung Bühne. „Dann lasst uns diesen Zwischenfall vergessen und den zweiten Akt verfolgen.“ Teils unwillig, teils verlegen zog der Trupp sich auf seine Plätze zurück.

„Ilsandro! Der Schuft! In unserem Theater! Dass die Pertaker sich das trauen!“, war das Letzte, was Navina hörte, ehe der Vorhang sich wieder hob. „Götter, bewahrt uns vor der Dummheit, die sich für Bildung hält!“ seufzte sie kopfschüttelnd, als sie schließlich wieder auf ihren eigenen Sitzplatz zurückrutschte. Sie war sich unsicher, ob sie über die ganze Szene noch mehr sagen sollte, aber da sich soeben die Schauspieler für den zweiten Akt wieder auf die Bühne begaben, wurde sie dieses Gewissenskonfliktes enthoben.

Zweiter Akt

Die Handlung schritt voran. So hatte man den „Kaufmann von Methumis“ noch nirgendwo gesehen, stellte Thersion Gedra zufrieden fest. Es war, nicht zuletzt dank der textlichen Änderungen, eine Inszenierung, die das Publikum nicht ungerührt ließ.
Mitunter war es, als sei die unsichtbare Mauer zwischen Bühne und Zuschauerraum gefallen, so sehr nahmen viele der Anwesenden an dem Geschehen oben teil. Hatte das Publikum die Schmähungen der drei Stadtherren bis zur Pause noch mehrheitlich belustigt verfolgt, so kamen nun mehr und mehr Zwischenrufe. Ein Teil der einheimischen Zuschauer schien immer weniger willens oder vermögens, zwischen Rolle und Darsteller zu unterscheiden.
Vor allem der Mime, der den Zarastro/Ilsandro sprach, hatte einen schweren Stand. Mehr als einmal flatterte ein Textheft knapp an ihm vorbei, einmal barst so gar eine Bosparanjerflöte zu seinen Füßen. Einen Moment schien es, als wolle der Schauspieler seine Maske vom Gesicht nehmen, um den zunehmend Aufgebrachten zu verdeutlichen, dass er lediglich spielte, die Worte nicht seine Meinung waren. Er stockte kurz im Text, ließ die Maske auf dem Gesicht, und spielte dann weiter, wenn seine Stimme nun auch deutlich gepresst klang.

Pertakis. Eine Straße. Zwei Patrizierinnen und Zarastro treten auf.

Saggia: „Nun, was gibt‘s Neues auf dem Markte?“

Rovena: „Ja, noch wird nicht widersprochen, dass der Einäug’ge Ralman auf Arinken marschiere, die Unterstützer Benedicts seien auf der Flucht. Sagt uns, Zarastro, was hört Ihr: hat Benedict einen Verlust gehabt oder nicht?“

Zarastro: „Er sehe sich vor mit seinem Schein! Er hat mich immer Wucherer genannt, hat mich Pfeffersack geheißen. Er sehe sich vor mit seinem Schein!“

Saggia: „Nun, ich bin sicher, wenn die Schuld verfällt, so wirst du sein Fleisch nicht nehmen: wozu wär es gut?“ Zarastro: „Fische mit zu ködern. Sättigt es sonst niemanden, so sättigt es doch meine Rache. Er hat mich beschimpft, mir meine Stadt genommen, meinen Ehrverlust belacht, meine Schande bespottet, meine Familie geschmäht, meinen Handel gekreuzt, meine Freunde im Adel verleitet, meine Feinde gehetzt.

Und was hat er für Grund! Ich bin ein Kaufmann. Hat nicht ein Kaufmann Augen? Hat nicht ein Kaufmann Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekühlet von eben dem Winter und Sommer als ein Krieger? Wenn Ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn Ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn Ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn Ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen? Sind wir euch in allen Dingen ähnlich, so wollen wir's Euch auch darin gleich tun. Wenn ein Kaufmann einen Krieger beleidigt, was ist seine Demut? Rache. Wenn ein Krieger einen Kaufmann beleidigt, was muss seine Geduld sein nach der Rondrianer Vorbild? Nur Rache. Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich ausüben.“

Auf den billigen Plätzen

Das Unmutsrufen von den billigen Plätzen wurde lauter. Horasio ya Papilio, der den angestammten Sitz seiner Tante Sharane weiter vorn belegte, stellte mit Überraschung fest, dass nicht nur Einheimische, sondern auch pertakische Gäste dort saßen – am linken und am rechten Rand der mitthinteren Reihen. Die beiden Gruppen warfen sich nun schmutzige Worte und saubere Sitzkissen entgegen. Ein Horasio unbekannter Wortführer der Sheniloer forderte jetzt lauthals, „dem Pertakkenpack das Maul zu stopfen und das Fell zu gerben“. Noch blieb es bei Drohungen.

„Oh Bretter, die die Welt bedeuten, was schafft Ihr für eine hervorragende Gelegenheit, so öffentlich und doch so anonym den Massen zu schmeicheln, an ihre Gefühle zu appellieren und ihren Ärger zu schüren. Ich verneige mich vor dem Schreiber dieses Stückes, er ist ein begnadeter Demagoge.“ Trotz des Tumults, der bereits auf den hinteren Sitzreihen herrschte, klang aus Navinas Worten immer noch die distanzierte Beobachterin heraus, als die sie sich fühlte. Je leidenschaftlicher das Publikum auf das umgeschriebene Theaterstück reagiert hatte, desto mehr hatte sie sich selbst zurückgenommen, um nicht in diesen Sog der Gefühle gezogen zu werden. Es gelang ihr sogar recht einfach, da sie nicht persönlich involviert war.
Angelegentlich hob sie eine Augenbraue und musterte ihren Begleiter streng. „Wie es mir scheinen will, sind Glückwünsche für dieses Meisterwerk der Propagandakunst angebracht und ich denke ihr wisst sie zu…“, ein kurzes Zögern und dann schloss sie mit einem Lächeln: „…zu übermitteln.“

Thersion lächelte seine Begleiterin an und neigte dann den Kopf. „Maestro ter Marloff wird sicher erfreut sein, dass die Sheniler Adaption zumindest einigen Zuschauern Gefallen bereitet hat“, fügte er dann hinzu. Einem geübten Beobachter und Bekannten Thersions konnte dennoch nicht entgehen, dass seine Zufriedenheit mit einer gewissen Unruhe einherging, die sowohl von gespannter Erwartung, als auch unterschwelliger Sorge herrühren mochte.

Eine weitere Patrizierin tritt auf.

Alicera: „Edle Signori, habt Ihr's vernommen? Arinken hat die Tore geöffnet.“

Zarastro (lauernd): „Und Benedict?“

Alicera: „Ja, andre Menschen haben auch Unglück. Benedict, so hört ich, hat sich in Shenilo versteckt.“

Zarastro: „Was, was, was? Ein Unglück? Ein Unglück?“

Alicera: „Ralman marschiert auf Shenilo. Benedict ist erledigt.“

Zarastro: „Phex sei gedankt! Phex sei gedankt! Ist es wahr? ist es wahr? Das freut mich sehr! ich will ihn peinigen, ich will ihn martern. Das freut mich!“

Saggia: „Benedict ist gewiss ruiniert.“

Zarastro: „Ja, das ist wahr! Das ist wahr! Geh, Saggia, sammle die Männer, sollen morgen zum Marsch bereit sein. Ich will sein Herz haben, wenn er fällt. Denn wenn er aus der Ponterra weg ist, so kann ich herrschen und Handel treiben, wie ich will. Geh, geh, Saggia, und triff mich beim Tempel des Listenreichen! Geh, gute Saggia! bei unserem Tempel, Saggia!“

Eskalation

Zarastros ruchlose Zeilen erinnerten an das Tun Ilsandros im Sheniloer Buhurt von 1029 BF. Das war zu viel. In der aufgeheizten Stimmung sah man nun auch Horasio aufspringen und buhen. Er besann sich aber rasch; es war ja nur ein Theaterstück. Das musste man im Sinne der freien Kunst hinnehmen, auch wenn einem das Gespielte nicht gefiel.
Doch hinter ihm eskalierte nun der Krawall: Die Gruppe junger, sheniloer Unruhestifter begann, Teile der Sitze abzubrechen, drohend gegen die pertakischen Zuschauer zu schütteln... und dann auch zu werfen. Die Gegenpartei wollte dem nicht lange nachstehen.
Aus jeder Gruppe löste sich eine Handvoll Leute und eilte zu den Bühnenaufgängen links und rechts. Horasio und andere, besonnenere Beobachter erkannten: Entweder sie wollten dem vom Tumult verstummten „Zarastro“ an den Kragen, oder die Schlachten ihrer Verwandten auf der Bühne neu ausraufen – oder beides.
Dass die Mimen aufhörten zu sprechen, fiel in dem Lärm von Beschimpfungen, reißenden Wandbespannungen und splitternden Lüstern nicht mehr auf. Die meisten Schauspieler flüchteten hinter das Bühnenbild, als die ersten Streithähne die schmalen, steilen Treppchen zu ihnen herauf eilten. Nur „Zarastro“ blieb in der Mitte stehen, schien mit beiden Händen bemüht, die Larve vom Gesicht zu nehmen. „Recht so!“, brüllte ein junger Pertaker. „Runter mit der Maske!“ Er griff als erster nach dem Mann, um ihm das falsche Antlitz herunterzureißen.

Thersions Unruhe hatte sich merklich gesteigert, und als nun der Tumult ausbrach, hielt es auch ihn nicht länger auf seinem Stuhl. Allerdings strebte er gegen den Strom ins hintere Ende der Theaterhalle, Navina hinter sich herziehend. Dabei stellte er sich schützend vor die Gelehrte und erhielt dabei auch den ein oder anderen Rempler schier geistlos nach unten drückender Zuschauer. Navina wäre wohl wie angeklebt auf ihrem Platz sitzen geblieben, hätte sie ihr Begleiter nicht mitgezogen. Der massive Ausbruch von Gewalt überforderte die eher vergeistigte Dame sichtlich. So war sie sehr froh, sich einfach an Thersions Hand klammern zu können und diesem zu folgen. Weniger Zutrauen brachte sie dagegen dem grobschlächtigen Gesellen entgegen dem sie kurz daruf in die Arme gedrückt wurde.

Isonzo, schrie Gedra über die Köpfe der Menge hinweg, als er einen besonders heftigen Stoß gegen den Brustkorb erlitten hatte. Die Übeltäterin, eine massige Frau mit blondem Haarschopf und Wut in den tiefliegenden Augen, erhielt nun ihrerseits einen Hieb und stolperte aus Thersions Sichtfeld. Hinter ihr ragte ein finster dreinblickender Mann mit braunem Kaiser-Alrik-Bart und einem Lederknüppel auf, der die Hand nach Navina ausstreckte.
„Isonzo, endlich!“ Thersion wandte sich kurz zu Navina um und lächelte ihr aufmunternd zu. „Keine Sorge, meine Liebe, der gute Meister Manzanares hier wird für Eure Sicherheit sorgen!“
„Nein, bitte ich möchte...“, wagte sie zu widersprechen, als sich ein kräftiger Arm um ihre Taille legte und sie in Richtung Ausgang bugsierte. Ihr Blick suchte Signor Gedra, den sie allerdings nur noch von hinten sah, da er Richtung Bühne starrte.
„Nix da. Ich bring Euch raus“, wurde ihr Protest im Keim erstickt. Isonzo brachte sie bis vor das Gebäude und auch noch um eine Ecke herum, so dass Navina nicht mehr Gefahr lief, von der fliehenden Menge mitgerissen zu werden. „Bleibt hier stehen Signora, ich komme gleich zurück.“ Mit diesen Worten drehte sich Isonzo um und eilte wieder in Richtung Theater. Während der ehemalige Tempelgardist die Gelehrte gen Ausgang führte, warf der Schreiber des Hesindeblattes einen Blick zurück auf die Bühne. Er starrte eine Weile und wurde dann bleich.

Demaskierung

Wohl zwei Dutzend Tumulteure aus beiden Städten rannten inzwischen auf der Bühne umher, warfen Stühle durch die Kulisse oder hieben mit Händen, falschen Haarteilen, die von den Darstellern verloren worden waren, oder Requisiten aufeinander ein. Um „Zarastro“ bildete sich eine regelrechte Traube: Die Pertaker wollten ihn demaskieren oder „ihren“ Gransignor schützen, die Sheniloer dem „Ilsandro“ einen mitgeben oder ihn demaskieren. Beide Seiten zerrten an dem Mann. Dass dieser erst angstvoll, dann schmerzerfüllt, dann kreischend schrill schrie, merkten allenfalls einige im Zuschauerraum, die der Massenszene oben folgten, obwohl mittlerweile improvisierte Wurfgeschosse durch den Saal flogen.
Dann war die Maske ab, und einer der Pertaker hob sie triumphierend in die Höhe – um sie nach einem Augenblick entsetzt fallen zu lassen. Erst auf der Bühne, dann im ganzen Saal wurde es schnell so still, dass man das gemarterte Schreien des Schauspielers überall hören konnte – bis er das Bewusstsein verlor.
Horasio hatten die Ereignisse bis an den Bühnenrand getrieben. Zwischen den Beinen der kurz zuvor noch Raufenden hindurch konnte er den auf die Bretter gefallenen „Zarastro“ erkennen: „Sie haben ihm das Gesicht abgerissen!“, sagte er so laut, dass es selbst in der Loge noch zu verstehen war. Das Antlitz des Darstellers war auf Stirn, Wangen und Kinn nicht mehr als eine von Haut entkleidete, blutige Fläche.
Es würgte Horasio, als er in die daneben liegende Maske schaute und darin Fetzen kleben sah: Die um den Darsteller streitenden Parteigänger hatten diesem mit der Zarastro-Maske tatsächlich Teile der Gesichtshaut abgerissen. Wie war das möglich!? Ein unnatürlich hoher Schreckensruf entrang sich der Kehle eines auf der Bühne Stehenden. Dann begann die panische Flucht, weg von dem Verletzten.

„Verdammte Pertakker!“ In dem erneut ausbrechenden Tumult war es unmöglich, den Rufer ausfindig zu machen. Aber bald wurde seine Worte aufgegriffen und schon wandelte sich das Entsetzen mancher in Zorn. Während das Gros der Zuschauer aus dem Theater strebte, um dem Schrecken zu entkommen, sammelte sich eine Gruppe von knapp zwei Dutzend Frauen und Männern um Remal Andorma, Fardenin Siltalenis und Jamene Zardan und trieb die wenigen verbliebenen Pertakiser vor sich her.
Schließlich war es Isonzo Manzanares, der Thersion aus dem Theater trieb, neben dem Knüppel hatte er nun einen breiten Dolch gezückt, der den ein oder anderen Zuschauer einen weiten Bogen um beide Männer machen ließ.
Die Zufriedenheit der vergangenen Stunde war gänzlich aus Thersions Zügen gewichen: „Das...hätte nicht passieren sollen!“ Er schüttelte den Kopf und griff nach Isonzos Knüppel. „Bringt mich zu Signora ya Malachis - und dann in Sicherheit!“
Auf dem Pflaster vor dem Theater angekommen, sah Thersion kurz hinter dem wütend brüllenden Haufen her, der sich rasch gen Westen bewegte auf die Signora-Selinya-Allee zu. Isonzo und Thersion wandten sich indes anderwärts.

Zunächst blieb Navina auch in der Seitengasse stehen, aber dann veränderte sich etwas am Strom der Menge die aus dem Gebäude drängte, die Menschen schienen vor etwas zu fliehen. Es musste wohl im Inneren des Theaters noch etwas vorgefallen sein, was die Masse in Panik versetzt hatte.
Navina sah, wie ein älterer Mann grob von hinten gestoßen wurde, weil er nicht schnell genug voran kam. Er stürzte und prompt trampelten die Nachfolgenden über ihn hinweg. Der arme Kerl konnte sich nur noch hilflos zusammenkrümmen in der Hoffnung nicht zertreten zu werden. Ohne ernsthaft über die Konsequenz ihres Handels nachzudenken trat sie hinter der Hausecke hervor, mit der Absicht, dem Gestürzten zu helfen. Allerdings kam sie nicht so weit, die aufgebrachte Menge schwemmte sie einfach mit davon.
Navina machte nun die erschreckende Erfahrung, dass ein rennender Mob sehr viel mit einem reißenden Fluss gemeinsam hatte. Sie kam nicht ein Stück in die von ihr gewünschte Richtung. Im Gegenteil! Die gelehrte Dame ya Malachis wurde mitgerissen und konnte ihrerseits nicht viel mehr tun als auf den Beinen zu bleiben. So fanden Thersion und Isonzo nur noch eine leere Gasse vor, als sie kurze Zeit später ebenfalls ins Freie traten. Noch etwas, was so nicht hätte passieren sollen.

Epilog

Der Stiefel trat auf eine Glasscherbe, ein achtlos oder in gewalttätiger Absicht während Flucht oder Kampf zerbrochener Pokal, der einst einem Zuschauer des Kaufmanns von Methumis gehört haben mochte. Das Theater glich einem Schlachtfeld: Zerstörte Sitze, umherliegende Einblattdrucke, die das Stück angepriesen hatten, liegengelassene, teilweise zerrissene Kleidungsstücke.
Der Mann schritt durch die Reihen und näherte sich der Bühne. Fast glaubte er, die wütenden Schreie der Zuschauer noch durch das leere Halbrund hallen zu hören. Er blieb am Fuße der Bühne eine Weile stehen, wo ein getrockneter Fleck verriet, was hier geschehen war. Dann betrat er die Bretter, kniete sich neben dem Blut zu Boden. Seine Hand griff nach dem Antlitz, das zurückgelassen worden war. Die klebrige Rückseite, die seine Haut benässte, kümmerte ihn nicht.
Er wischte mit dem Daumen über die Kohlezeichnungen von Bart und Haaren bis die Maske fast ohne Gesichtszüge war. Das angedeutete Lächeln der Maske, weiß bis auf das dunkle Rot, begegnete seinem.
Freiheit!

Die Geschichte wird hier fortgeführt: König-Khadan-Platz