Briefspiel:Hoher Besuch/Rahjatempel

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Beteiligte (irdisch)
Familie Brahl klein.png Brahl
Haus ya Papilio.png Gishtan re Kust

Shenilo, Rahjatempel, 17. Boron 1037 BF

Der Tempelvorsteher Beleno Brahl konnte schon den ganzen Tag das Auf- und Abschwellen der Stimmen draußen auf dem Platz hören. Mal war es kaum wahrzunehmen, mal steigerte es sich zu Aufruhr und Schreien empor. So wie jetzt. Dann hörte er plötzlich fordernde Schläge gegen das Hauptportal.
Der Geweihte entschuldigte sich mit einem betonten Ausdruck von Gelassenheit bei dem Grüppchen Gläubiger, das gerade über je sieben verschiedenen Likören, Düften und Berührungen meditierte, erhob sich, zog sich einen den kühlen Temperaturen draußen entsprechenden Mantel über und ging zum Tor. "Was ist da los?", verlangte er von einer Akoluthin zu wissen, die die Unruhe draußen durch ein Guckloch im Blick hatte. "Hochwürden, es scheint, als wolle ein junges Paar der Herrin huldigen - und die beiden scheinen in Eile."

Auf ein Zeichen Belenos hin öffnete die Akoluthin das schmucke Portal. Sogleich schwappte der Lärm davor versammelter Menschen ihnen entgegen. Viele hatten sich schimpfend und fluchend einer jungen Frau zugewandt, die mit ängstlichem Blick in den Tempel drängte und dabei einen widerwillig scheinenden Soldaten hinter sich herzog. Der Geweihte trat mit einem freundlichen Lächeln aus dem marmornen Atrium der Menge entgegen, wie zum Trotz der ihm entgegenschlagenden Stimmung. Da erst erkannte er die Farben des Gerüsteten: Ein Pertakke!, schoss es Beleno durch den Kopf. Es musste einer der Elitereiter sein, die im Gefolge Alessandros angereist waren. Was hatte dies zu bedeuten?

"Dirne!", brüllte ein teiggesichtiges Weib aus zweiter Reihe. "Lustmolch!", erklang es von einem Städter mit geröteter Nase. Fäuste wurden geschüttelt, ein alter Fisch klatschte quabbelig auf den Rücken des Pertakers. "Jetzt rauben die uns schon unsere Töchter!", gellte die Anklage einer streng blickenden Frau aus der Menge.
Die erschrockene, junge Sheniloerin zog ihren wütend nach hinten blickenden Begleiter auf den Rahjadiener zu und machte vor Beleno einen Knicks. Sie kam dem Geweihten bekannt vor - keine Käufliche, war er sich sicher: "Oh Gastgeber der Freuden", sprach sie ihn mit ängstlich zitternder Stimme mit seinem Titel förmlich an. "Ich bitte für mich und meinen... Bekannten hier um Euren Schutz."

Der Brahl nickte ihr aufmunternd zu, übersah den Soldaten und hob beschwichtigend die Hände, um das Wort an die Menge zu richten. Geduldig wartete Beleno auf ein Abschwellen der wüsten Beschimpfungen, doch die Anwesenden schienen ungewohnt respektlos. Ein übel riechendes Ei verfehlte die Schutzsuchenden und den Hochgeweihten gleichermaßen; die klebrige Masse besudelte den rosa Marmor des Tempels. Kurz darauf stöhnte die eben noch erschrocken dreinblickende Übeltäterin auf, weitere Eier zerbarsten auf dem Pflaster. Ein kräftiger Küfer hatte mit einem Faustschlag in die Magengrube seine Ansicht über die Beschmutzung des Rahjatempels zum Ausdruck gebracht. Nach diesem Zwischenfall verstummte das Krakelen der Meute zunächst bis auf ein unwilliges Gemurmel.
"Oh Herrin der Abendröte", nutzte Beleno die Gelegenheit, das Wort an das aufgebrachte Volk zu richten. "Göttin der Eintracht und der Liebenden. Verzeih uns, deinen frommen Dienern, und gib uns die Kraft nach deinem Willen zu handeln. Ich frage Euch, aufrechte Sheniler und Sheniloer, was haben jene verbrochen, dass Ihr sie treibt wie Vieh durch die Stadt? Du da, Weib" - mit Bedacht hatte der Geweihte die Eierwerferin neben dem auf seine Weise frommen Küfer gewählt -, "nenn mir den Grund deines Zorns!"

Eingeschüchert, so in den Mittelpunkt des Geschehens zu geraten, war die Antwort der teiggesichtigen Eierwerferin zuerst nicht zu verstehen. Erst als der Küfer sie grob am Handgelenk hochzog, hob sie den Kopf und sprach deutlich: "Sie lässt sich mit einem Pertakken ein! Obra, die Tochter eines anständigen sheniloer Einwohners!", empörte sie sich, mit jedem Wort lauter werdend.
Das stachelte die Umstehenden wieder an: "Einer der Reiter des unsäglichen Ilsandro ist der", deutete der Rotnasige auf den auswärtigen Besucher, der mit geballten Fäusten neben dem Rahjageweihten stand. "Kaum einen Tag in der Stadt, und schon ein Liebchen gefunden!", setzte sein "Ankläger" nach. "Verfall der Sitten!", rief die Strenge dazwischen. "Herumpoussieren in der Öffentlichkeit! Schämen sollten sich beide!"

Die Rückkehr der Empörung in die aufgebrachte Menge gefiel dem Consiliere Darador gar nicht. Es galt, die richtigen Worte zu finden. Da fiel im ein altes Gleichnis ein. Wieder hob er beschwichtigend die Hände: "Verfall der Sitten, sagt ihr? Und besudelt zugleich diese heiligen Mauern...? Ich sage euch: Eines Pertakers wegen zieht ihr lärmend vor den Tempel, die Göttin der Harmonie störend! Die Frommen aber stört ihr im Gebet. Doch weiß ich wohl, wie gütig die Herrin Hesinde auf unser Shenilo und seine Bürger blickt. Darum höret folgendes Gleichnis: Siehe, mit den Menschen ist es wie mit dem Rebstock. Denn im ersten Jahr schickte eine Gutsherrin ihre Weingärtner aus, Reben zu pflanzen, dass sie IHR wohlgefallen. Doch so heiß fiel die Praiosscheibe auf den Weinberg, dass die Reben verdorrten. Sie also sagten zur Herrin: Den Wein wollen wir verschmähen, denn er passt nicht zu diesem Berg. Lasst uns die Bosparanie pflanzen, die unter Praios' strengem Blick gedeiht. Doch die Herrin antwortete: Erneut sollt ihr meine Rebe pflanzen. Und sie taten wie ihnen geheißen. Doch allzu gütig bedachte sie der Herr Efferd in diesem Jahr und die Trauben faulten. Da wieder klagten sie der Herrin: Wir wollen lieber Goldäpfel pflanzen, dass die Frau Peraine uns belohnt. Doch SIE sprach: Habt nur Vertrauen! Dies wird ein Weinberg sein. Im dritten Jahr nun gingen die Weingärtner ohne Murren zu Werke. Sie jäteten, lichteten, schnitten und pflegten, und vertrieben die Drosseln. So sehr mühten sie sich und vertrauten auf ihre Herrin, dass gar der strenge Herr Firun milde wart und die Weinlese reichlich. Da sprach die Herrin zu ihren Gärtnern: Glückselig eure Ohren, dass sie hören, und eure Zungen, dass sie schmecken; denn wahrlich, ich sage euch: Welch Weinberg ich auch wähle, nicht töricht sollt ihr sein und zweifeln. Die Klugen aber vertrauen, auf dass sie feinsten Wein vom Berge ernten."

Während der wohlgewählten Worte des würdevollen Geweihten war das Gewirr der geifernd stichelnden Stimmen vor dem Tempel mehr und mehr abgesunken, manch Blick in die Ferne gerückt. Jetzt räusperte sich ein hagerer Jüngling mit Pickeln und blickte, ins hier und jetzt zurückkehrend, verlegen, als sich die Blicke der Umstehenden auf ihn richteten.
"Ja...", begann der grobe Küfer unsicher, und fuhr dann mit festerer Stimme fort: "Genau!", pflichtete er Beleno bei. Jener war nicht sicher, ob der Gläubige seine Worte zur gänze verstanden hatte - und der Küfer selbst offensichtlich auch nicht.
Doch sie zeigten Wirkung. Die Leute vor dem Tor der Heiligen Svelinya tuschelten miteinander, nickten, um Verstehen und/oder Zustimmung zu zeigen. Vor allem aber drangen sie nicht weiter auf der Paar ein.
"Soll Obra doch unglücklich werden, mit wem sie will", gab die Teigige klein bei und stand auf, um ihre Kleider abzuklopfen. Der Küfer half ihr dabei.
Weiter hinten wandten sich die ersten achselzuckend ab und schlichen von dannen, um andere, ereignisreichere Orte zu suchen. Hier würde es keinen Händel mehr geben.
Selbstzufrieden klopfte sich Seine Hochwürden auf den Bauch, auch wenn er sich insgeheim wünschte, dass doch der ein oder andere in den kommenden Tagen das Zwiegespräch mit ihm oder zumindest die Messe suchte, um das Gleichnis auch wahrlich zu verstehen. Nun, Beleno konnte mit der - hoffentlich anhaltenden - Wiederherstellung der Harmonie auf dem König-Khadan-Platze und dem Schutze des dankbaren Pärchens wohl zufrieden sein. Also wandte er sich um und begleitete die frisch Verliebten in den vom Abendrot erfüllten Tempel. "Und nun - lasst uns beten!"