Briefspiel:Eine Quanione

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Stadt Urbasi klein.png Briefspiel in Urbasi Stadt Urbasi klein.png
Datiert auf: Ende Praios 1035 BF Schauplatz: 'Corte segreto' des Palazzo Casciano in Urbasi Entstehungszeitraum: Juni 2013
Protagonisten: Auricanius und Yandriga von Urbet, weitere Anverwandte Autoren/Beteiligte: Haus Urbet-Marvinko.png Gonfaloniere

Eine Quanione

„Nicht so wild! Denkt daran: Ihr seid alle von edler Geburt und es wird von euch erwartet, dass ihr dies auch zeigt …“
Auricanius' Appell an die versammelte Kinderschar des Hauses Urbet ließ diese kurz innehalten. Doch kaum hatte er sich wieder zu seiner Schwester umgedreht, ging das Getobe in seinem Rücken weiter. Yandriga konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Corte segreto*“, raunte sie ihrem Bruder vielsagend zu.
„Nur weil die Popoli unser Treiben hier nicht sehen können, müssen wir uns nicht aufführen, wie wir wollen“, hielt ihr der Jüngere entgegen, und richtete seinen Blick zum Himmel, wo hinter der hohen Innenhoffassade des Palazzo Casciano bald die Praiosscheibe auftauchen musste. Die Mittagsstunde nahte.
„Wie geht’s ihr?“
„Wem?“ Auricanius sah seine Schwester ob der seltsamen Frage rätselnd an.
„Ihr!“ Der Blick Yandrigas ging nun auch demonstrativ nach oben, verharrte aber an einem der zum Innenhof weisenden Fenster der oberen Etagen.
„Achso …“ Yandriga musste seine hochschwangere Gemahlin gemeint haben. „Es nimmt sie wohl wieder sehr mit, aber ich war heute noch nicht bei ihr …“
Seine Schwester sah ihn streng an: „Weißt du überhaupt, wie sehr sie dich lieben muss? Sich diese Tortur stets aufs Neue anzutun …“
„Nein, sie hat Traviano geliebt. Vielleicht als einzige wirklich ohne Nebengedanken. Was Tsabella für mich tut, tut sie, weil sie es als ihre Pflicht ansieht.“
„Aber nach drei Fehlgeburten … nur um dir noch ein eigenes Kind zu schenken. Sei nicht so ungerecht, Praiot!“ Das letzte Wort hatte Yandriga besonders betont, wohl in der Erwartung ihren Bruder über die Glaubensgrundsätze seines Kultes zum Eingeständnis bewegen zu können.
Auricanius sah sie böse an: „Spotte nicht. Du hast ja keine Ahnung.“ Seine Worte für sich klangen unversöhnlicher, als sie gemeint waren.
„Wie auch“, hielt ihm nun Yandriga entgegen, „denn als mich unser Bruder damals nach Almada abschob, da warst du ein Krieger, ein Kämpfer wie ich, hast Turniere besucht, Rondra verehrt und mit einem Eintritt in den gerade von unserem Bruder vereinnahmten Lutisanerorden geliebäugelt. Als ich dann drei Jahre später zurückkehrte, warst du plötzlich ein Turaniter und Inquisitor …“
Auricanius sah seine Schwester skeptisch an, doch ihr vorwurfsvoller Blick machte deutlich, dass sie endlich mehr über seinen Gesinnungswandel während ihrer langen Abwesenheit in Almada wissen wollte.
„Ich habe kaum ein Turnier ausgelassen damals“, pflichtete er ihr erstmal bei. „Ich wollte so gut werden wie du …“
„Du warst längst besser“, gab sich Yandriga seiner Schmeichelei nicht hin, „und gerade deswegen verstehe ich’s noch weniger.“
Auricanius machte unbeirrt weiter: „Das Königsturnier in Arivor war das für lange Zeit letzte, an dem ich damals teilgenommen hatte. 1027 war das. Danach erst wieder 1030 am Großen Gestech.“
„Um den Verräter Trequerce zu bestrafen …“, vervollständigte Yandriga seinen Gedanken, „aber weich nicht aus. Warum Praios, und warum so plötzlich?“
„Nach dem Turnier in Arivor bin ich einer Einladung nach Kuslik gefolgt. Einer meiner Turniergegner wollte mir seine Heimatstadt zeigen, die gerade zum Jahresanfang immer einen Besuch wert sei. Hatte er jedenfalls gesagt.“
„Ja?“
„Ich bin dort aber nie angekommen. Nur fast. Die Namenlosen Tage waren keine gute Zeit zum Reisen. Am 1. Praios war ich erst in Rigalento, auf der anderen Seite der Yaquirmündung. Ein schönes kleines Städtchen in Sichtweite der Metropole …“
„Und?“
„Und da habe ich die Tempel besucht, erst früh morgens den der Rondra, danach, weil doch immerhin der 1. Praios war, den des Götterfürsten. Hätte ich gewusst, dass alle wichtigen Geweihten und viele Patrizier längst wegen des Feiertags im größeren Tempel Kusliks weilten, vielleicht hätte ich auch direkt den Weg zur Fähre angetreten.“
„Hast du aber nicht …“
„Nein, stattdessen stand ich da in einem fast verlassenen Tempel, in dem ein einfacher Novize den wenigen anwesenden Bürgern die Messe vorlas, als …“ Auricanius stockte.
„Weiter“, forderte ihn seine Schwester auf.
„Hast du in Almada jemals von der ‚Verkündung durch hundert Zungen‘ gehört?“
Yandriga musste kurz überlegen, rollte dann aber mit den Augen. „In Dalias gibt’s auch einen Praios-Tempel, meine Schwiegertante war eine Hochgeweihte, und eine anstrengende dazu … natürlich! War das nicht dieses Orakel, nachdem in Gareth das Ewige Licht verschwunden war?“
„Genau das. Und ich war in diesem fast verlassenen Tempel in Rigalento Zeuge, als der Novize es mit verkündete. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen, Yandriga … ein leibhaftiges Wunder!“
„Oh …“
„Dass ich eine Einladung nach Kuslik hatte, war mir danach total egal. Ich bin noch in derselben Stunde zurück nach Urbet aufgebrochen. Ich habe Traviano dort alles erzählt, den genauen Wortlaut des Orakels rezitiert. Und ich habe ihm gesagt, dass ich mich dem Götterfürsten weihen lassen will.“
„Und das hat er akzeptiert?“
„Er musste es. Aber er wollte es auch. Du hättest ihn damals sehen müssen. Als ich ihm die Worte des Orakels wiederholte, da leuchteten seine Augen. Dass er bei ‚Eine neue Sonne wird das Firmament überstrahlen‘ schon damals an sich selbst gedacht haben mag, das fiel mir erst viel später auf …“
Yandriga rollte mit den Augen.
„Er war ein Träumer, aber er hat wirklich an das Gute in allen seinen Absichten geglaubt“, verteidigte Auricanius den Verstorbenen.
„Novarizio Traviano!“ Der strenge Ruf ihrer Tante Udora riss die beiden Geschwister aus ihrem Gespräch. Erschrocken traten beide aus dem Schatten der umlaufenden Arkaden zurück auf den Innenhof, wo das Spiel der Kinder ein unversöhnliches Ende genommen zu haben schien. Yandrigas Sohn Nepolemo lag jammernd auf dem Boden, während sich ‚Auricanius‘ Sohn‘ Novarizio mit Zornesröte im Gesicht zur Großtante umgedreht hatte.
„Er wollte mir nicht erlauben, dieses Unkraut auszureißen“, entschuldigte sich der Knirps unbeholfen, „da muss er sich nicht wundern, wenn ich ihn schubse …“
„Welches Unkraut?“ Nun war es Auricanius, der vortrat.
„Das hier, Vater“, antwortete Novarizio und gab ihm mit einem Schritt zur Seite den Blick auf eine zwar kleine, doch erstaunlich symmetrische Blume frei, die mitten im Innenhof aus dem Kies ragte und sich noch exakt an der Schattenlinie der hohen Fassade befand, einen Herzschlag später aber bereits golden im Licht der Praiosscheibe leuchtete. Ein Raunen ging durch die Reihe der Kinder.
„Was ist das?“ Auch Yandriga wunderte sich.
„Ei… eine Quanione“, flüsterte ihr Auricanius zurück, „eine Pflanze des Götterfürsten, die wohl seit dem Verschwinden des Ewigen Lichts vor allem an der Grenze zu den Schwarzen Landen immer wieder auftaucht.“
„Das ist ein Zeichen deines Herrn, dass er es gut mit dir meint“, mutmaßte die Schwester.
„Nein, ich fürchte nicht. Es heißt, diese Quanionen wachsen nur an Plätzen, denen Unheil droht …“


*) wortwörtlich: Geheimer Hof